# taz.de -- Verkehrszählungen in Berlin: Wo sind all die Autos hin?
       
       > Aktuelle Zahlen belegen zwar, dass der motorisierte Verkehr auf Berlins
       > Straßen abgenommen hat. Andere Daten werfen aber Fragen auf.
       
 (IMG) Bild: Ist es leerer hier? Oder sieht es nur so aus?
       
       BERLIN taz | Die Daten sind verwirrend. Laut den Verkehrsmessungen der
       Senatsverwaltung für Mobilität gibt es einen deutlichen langfristigen Trend
       beim Kfz-Verkehr in der Stadt: An vielen Stellen nimmt er schon seit Jahren
       ab. Mit der Wahrnehmung vieler BerlinerInnen im Alltag will das nicht so
       recht zusammenpassen – aber können Zahlen lügen?
       
       Geheim waren die Zählungen nie, aber durch eine [1][parlamentarische
       Anfrage der Grünen-Abgeordneten Antje Kapek] kamen sie vor ein paar Wochen
       wieder einmal aufs Tapet. An 201 der 226 automatischen Zählstellen auf
       Hauptverkehrsstraßen, für die eine Zeitreihe über die letzten neun Jahre
       vorliegt, wurde ein Rückgang der sogenannten Durchschnittlichen Täglichen
       Verkehrsstärke (DTV) gemessen. Mal um wenige Prozent, mal um 30 oder sogar
       40 Prozent.
       
       Mit dem Coronaknick hat das offensichtlich nichts zu tun, auch wenn der
       sich zusätzlich in den Daten abbildet. Ein Beispiel: Auf der Schöneberger
       Hauptstraße etwa wurden 2015 noch 17.171 Kfz am Tag gezählt, 2023 waren es
       nur noch 12.433, ein Minus von rund 27 Prozent. Zwischendurch hatte die
       Zahl im Jahr 2021 bei nur 10.172 gelegen.
       
       Für den Verkehrsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin sind
       das hervorragende Nachrichten. In ganz Deutschland steige „die Zahl der
       zugelassenen Kraftfahrzeuge an, doch unterm Strich werden immer weniger
       Kilometer zurückgelegt“, [2][zitiert die Berliner Zeitung den
       Wissenschaftler]. „Die nun bekannt gewordenen Zahlen für Berlin zeigen,
       dass die Fahrleistung des Kfz-Verkehrs in der Hauptstadt besonders deutlich
       gesunken ist.“
       
       Die Zulassungszahlen, die Knie erwähnt, sind ein weiteres Puzzleteil, das
       sich nicht so klar ins Bild einordnet: Seit rund 20 Jahren gibt es jedes
       Jahr ganz offiziell mehr Kfz in Berlin. Waren es 2009 laut dem Amt für
       Statistik Berlin-Brandenburg noch 1,09 Millionen Pkw und rund 77.000
       Lastkraftwagen, stiegen diese Zahlen bis 2023 auf 1,24 Millionen Pkw und
       122.000 Lkw. Eine mögliche Interpretation: Immer mehr Haushalte und
       Betriebe schaffen sich Autos an, die aber am Ende des Tages mehr stehen und
       weniger fahren.
       
       Das ließe sich ohne Weiteres mit Faktoren wie teureren Kraftstoffen,
       veränderten Gewohnheiten oder einem gestiegenen Umweltbewusstsein erklären.
       Die Frage ist allerdings: Wird unter dem Strich wirklich weniger gefahren?
       Der Verkehrsforscher Oliver Schwedes, zuletzt Professor an der Technischen
       Universität Berlin, sagt: „Es gibt einen Unterschied zwischen dem
       Verkehrsaufkommen, das an den Zählstellen ermittelt wird, und der
       Verkehrsleistung.“ Bei Letzterer gehe es nicht nur um die Anzahl der Wege,
       die mit dem Auto zurückgelegt werden, sondern auch darum, wie viele
       Kilometer die einzelnen Autos fahren. „Diese Zahl ist deutlich gestiegen.“
       
       Tatsächlich gibt die Senatsverwaltung für Mobilität die [3][gesamte
       Fahrleistung aller Berliner Kraftfahrzeuge für das Jahr 2019] (für das die
       jüngsten Zahlen vorliegen) mit 27,8 Millionen Kilometern an. Das ist zwar
       weniger als 2005 – da waren es noch 29,2 Millionen Kilometer –, aber
       immerhin genauso viel wie 2009. Oliver Schwedes verweist auf den stark
       angestiegenen Pendelverkehr zwischen Berlin und dem Umland: „Über 60
       Prozent der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmerinnen und
       Arbeitnehmer müssen heute pendeln. Die Entfernungen sind dabei überall
       gewachsen, aber Berlin ist der Spitzenreiter.“
       
       ## Auf die Kilometer kommt es an
       
       Wenn viele Autos weniger oft, dafür aber längere Strecken fahren, haben
       zumindest die Umwelt und das Klima nicht allzu viel davon. „Hier ist die
       Verkehrsleistung die entscheidende Größe, denn die gefahrenen Kilometer
       erzeugen die negativen externen Effekte“, sagt Schwedes.
       
       Auf den [4][Berliner Autobahnen, auf denen die Bundesanstalt für
       Straßenwesen Fahrzeuge zählt], ist das Bild dann auch nicht so eindeutig:
       Es gibt in der Zeitreihe Schwankungen, aber keine klare Abnahme. Am
       Autobahndreieck Neukölln etwa wurden 2015 noch 100.000 Pkw und 5.600 Lkw
       pro Tag gezählt, 2021 waren es dann 105.000 Pkw und 6.400 Lkw. An der
       Anschlussstelle Friedenau sank das Pkw-Aufkommen leicht von 139.500 (2015)
       auf 135.000, die Zahl der Lkw stieg dagegen von 7.800 auf 8.200.
       
       Für die viel zitierte Faustregel „Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten“
       scheint auf Grundlage all dieser Zahlen jedenfalls nicht besonders viel zu
       sprechen – zumindest nicht im Binnenverkehr der Stadt. So belegt die
       Statistik etwa seit der Eröffnung der A113 zum Flughafen Schönefeld im Jahr
       2010 keine Zunahme des Verkehrsaufkommens in den umliegenden Ortsteilen –
       im Gegenteil.
       
       Es gibt aber noch einen weiteren möglichen Faktor für das sinkende
       Aufkommen an den Zählstellen, zumindest theoretisch: In den vergangenen
       zehn Jahren haben sich [5][Navigationssysteme wie Google Maps] massenhaft
       durchgesetzt. Diese Systeme bilden die Verkehrsdichte dabei immer
       zuverlässiger live ab und lotsen viele AutofahrerInnen auf
       Alternativrouten, wenn die Hauptverkehrsstraßen verstopft sind.
       
       Das wiederum könnte dazu beitragen, dass die ebendort installierten
       Zählsensoren dann auch weniger häufig anschlagen. Wohlgemerkt: könnte. Denn
       brauchbare empirische Daten liegen dazu nach Auskunft mehrerer befragter
       VerkehrsexpertInnen nicht vor.
       
       22 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/19/SchrAnfr/S19-18146.pdf
 (DIR) [2] https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/so-ging-der-autoverkehr-in-berlin-zurueck-diese-zahlen-sind-ein-hammer-li.2196882
 (DIR) [3] https://www.berlin.de/umweltatlas/verkehr-laerm/verkehrsmengen/2019/einleitung/
 (DIR) [4] https://www.bast.de/DE/Verkehrstechnik/Fachthemen/v2-verkehrszaehlung/Daten/2012_1/Jawe2012.html?cms_map=0&cms_filter=true&cms_jahr=Jawe2012&cms_land=11&cms_strTyp=&cms_str=&cms_dtvKfz=&cms_dtvSv=
 (DIR) [5] /Manipulation-bei-Navigationsdienst/!5661747
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Claudius Prößer
       
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