# taz.de -- Die Wahrheit: Die gelogene Auswanderergeschichte
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (189): Die Bremer
       > Stadtmusikanten stammen gar nicht aus der Weserstadt.
       
 (IMG) Bild: Wenn sie nicht gestorben sind, sitzen diese Hessen noch immer in ihrem besetzten Haus
       
       Für einen lichtbildgestützten Vortrag über „Tiere im Widerstand“ fielen mir
       als Bremer natürlich die Bremer Stadtmusikanten ein. Sie werden meist so
       dargestellt: Ein Hahn steht auf dem Rücken einer Katze, diese auf einem
       Hund und der auf einem Esel – alle vier schreien.
       
       Es ist ein „Volksmärchen“, das die Brüder Grimm 1819 veröffentlichten. Der
       alte Esel soll verkauft werden. Deshalb flieht er und will Stadtmusikant in
       Bremen werden, wo es tatsächlich einmal Stadtmusikanten gab. Unterwegs
       trifft er auf den Hund, die Katze und den Hahn. Auch diese drei sind schon
       alt und sollen sterben. Sie schließen sich der Flucht des Esels an, um
       ebenfalls in Bremen als Musiker zu überleben. Den vieren geht es bei ihrer
       Flucht also um ein „Nein oder Nichtsein“ oder um die „Schwierigkeit, nein
       zu sagen“, wie es im Titel der Habilitationsschrift des
       Religionsphilosophen der FU Klaus Heinrich 1964 hieß, die ebenso wie er
       selbst wichtig für den Westberliner Studentenwiderstand war.
       
       Auf ihrem Fluchtweg kommen die vier Tiere durch einen Wald, in dem sie
       übernachten wollen, dabei entdecken sie ein Räuberhaus. Indem sie sich vor
       dem Fenster aufeinanderstellen und mit lautem „Gesang“ einbrechen,
       vertreiben sie die Räuber. Hernach besetzen sie das Haus und setzen sich an
       die gedeckte Tafel, auf der alles vorhanden ist, was Veganer und Karnivoren
       gern essen.
       
       Ein Räuber, der später nachts erkundet, ob das Haus wieder betreten werden
       kann, wird von den Tieren nochmals und damit endgültig verjagt. Den vier
       Tieren gefällt das Haus so gut, dass sie bleiben und nicht mehr nach Bremen
       wollen. Kann ich gut verstehen.
       
       ## Gesindeerzählung mit Eisbär
       
       Die Zusammenfassung habe ich Wikipedia entlehnt. Dort heißt es weiter: „Die
       Geschichte ist dem Literaturtyp der Tierfabel verwandt, und sie zeigt die
       Merkmale einer Gesindeerzählung: Die Tiere entsprechen den im Dienst bei
       der Herrschaft alt gewordenen, abgearbeiteten und durch den Verlust an
       Leistungskraft nutzlos gewordenen Knechten und Mägden. Mit ihrem Aufbruch,
       ihrem Zusammenhalt und Mut schaffen sie das fast Unmögliche. Sie entkommen
       ihren Besitzern und überlisten die Bösen, schaffen sich ein Heim und somit
       ein neues Leben.“ Das Märchen ist somit ein Musterbeispiel für den
       Erzähltypus „Tiere im Widerstand“.
       
       Heute hört man von Kühen und Kälbern, die vom Schlachthof flüchten, sich im
       Wald Hirschen oder Bisons anschließen oder in einem Gnadenhof aufgenommen
       werden, von Eisbären, die verlassene Hütten von Polarforschern besetzen,
       und von Füchsen, die in alte Fabriken einziehen.
       
       Und dann ist da auch noch die mehrfach verfilmte Fabel „Farm der Tiere“ von
       George Orwell, in der Nutztiere, von den Pferden bis zu den Gänsen, die
       Bauernfamilie verjagen und selbst den Hof bewirtschaften. Anders als die
       egalitären Bremer Stadtmusikanten übernehmen jedoch die Schweine das
       Regiment – und es wird stalinistisch. Der Trotzkist Orwell tat damit den
       Schweinen bitter unrecht.
       
       ## Hessen auf Bremer Ampeln
       
       Der Satz des Esels im Märchen: „Etwas Besseres als den Tod findest du
       überall“, mit dem er die anderen drei Tiere überredet, sich ihm
       anzuschließen, wurde immer wieder von Schriftstellern aufgegriffen, unter
       anderem von Carl Zuckmayer, Günter Bruno Fuchs, Nicolas Born und Janosch.
       
       Wikipedia behauptet: „Mit ‚Bremen‘ im Titel des Märchens ist eindeutig die
       Hansestadt Bremen gemeint“ – in dessen Überseehafen die Auswanderer sich
       nach Amerika einschifften. Das Märchen stammt jedoch aus dem „Bremer Grund“
       im sogenannten Hessischen Hinterland, wie Horst W. Müller in „Fritz der
       Wandermusikant – Die wahre Geschichte der Bremer Stadtmusikanten“ (2020)
       ermittelte.
       
       Von dort gelangte die Geschichte mit den Auswanderern nach Bremen, wo sie
       auf ein Schiff warteten – und schamlos ausgebeutet wurden: So mussten sie
       Unsummen für Schlafplätze in Schweineställen zahlen. Überdies eigneten sich
       die Bremer auch noch die Geschichte aus dem Bremer Grund an – und werben
       bis heute damit in Form von Erzählungen, Denkmälern, Medaillen, Souvenirs,
       mit Stadtführungen, im Stadtlogo und sogar in den Grünphasen der Bremer
       Ampeln.
       
       ## Furchtlos in Belgien
       
       Auf der Seite bremen.de heißt es im Internet: „Auf der Suche nach einer
       sicheren Zukunft machten sich die Stadtmusikanten einst auf den Weg nach
       Bremen. Die Hoffnung auf ein gutes Leben in der schönen Weserstadt teilen
       nicht nur aktuell, sondern seit je her zahlreiche Menschen, die aus allen
       Teilen Deutschlands und der Welt nach Bremen kamen und kommen. In der
       Tradition einer weltoffenen Hansestadt betrachtet Bremen Zuwanderung als
       Bereicherung und lebt eine aktive Kultur des Willkommens.“ Was für eine
       Lüge.
       
       Das bekannteste Denkmal für die vier Bremer Stadtmusikanten, die das ja nie
       waren, weil sie lieber in Hessen in ihrem besetzten Haus im Wald blieben,
       schuf 1953 der Bildhauer Gerhard Marcks. Es steht auf dem Bremer
       Marktplatz. Eine Plastik in Leipzig zeigt die vier Stadtmusikanten, wie sie
       den letzten Räuber vertreiben. Einen Wessi? Die Tiere waren in der DDR
       durch zwei DEFA-Filme bekannt geworden. 1997 gab es eine gesamtdeutsche
       Verfilmung mit dem Titel „Die furchtlosen Vier“, später folgte eine
       deutsch-belgische mit dem Titel „Die sagenhaften Vier“. 2001 kam auch noch
       in Russland ein Spielfilm in die Kinos, der den Titel „Die neuen Bremer“
       bekam.
       
       ## Beutekunst von Auswanderern
       
       Das sind nur die bekanntesten künstlerischen Bearbeitungen des Grimm’schen
       Märchens. Die Wahrheit, dass die vier Stadtmusikanten gar nichts mit Bremen
       zu tun haben, sondern Beutekunst von armen Auswanderern sind, wird sich
       also kaum durchsetzen. Anders ist es mit den Tieren, die aus ihrer
       Gefangenschaft oder, um nicht im Schlachthof zu enden, in die Freiheit
       flüchteten. Sie werden immer mehr, und sie haben eine gute Presse.
       
       Erst kürzlich wurde berichtet, dass vier Schimpansen aus einem schwedischen
       Zoo abgehauen seien. Im Jahr 2000 brachen drei Nandupärchen aus einem
       Gehege bei Lübeck aus und flohen nach Mecklenburg-Vorpommern, wo inzwischen
       560 Nandus leben. Weil sie sich von den Feldfrüchten der Landwirte
       ernähren, dürfen sie seit 2020 gejagt werden. Das ließen sich die Jäger
       beziehungsweise Räuber der Gegend natürlich nicht zweimal sagen.
       
       25 Mar 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Helmut Höge
       
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