# taz.de -- VW Golf wird 50: Die linke Karre
       
       > Vor 50 Jahren rollte der erste VW Golf vom Band. Wofür steht das kantige
       > Gefährt aus dem sozialdemokratischen Jahrzehnt?
       
 (IMG) Bild: Der VW Golf 1, 1974
       
       Der sture Firmenpatriarch wehrt alle Veränderungen ab. Er setzt seit 20
       Jahren auf dasselbe Produkt. Erst sein Tod ermöglicht einen Neustart, das
       Unternehmen wagt ein Fabrikat, das mit Gewohnheiten bricht – und ein
       riesiger Erfolg wird. Was wie die Handlung eines etwas klischeehaften
       Romans aus der Wirtschaftswelt klingt, wurde Anfang der siebziger Jahre bei
       dem Autobauer Volkswagen Realität.
       
       Am 29. März 1974 rollte der erste VW Golf vom Band. Der Golf I brach mit
       Konventionen, prägte Designgeschichte, wog leichte 800 Kilogramm und war
       ein Auto, das mit knapp 8.000 Mark für die einfache Version ziemlich
       günstig war. Rechnet man die Inflation hinzu, wären das heute gerade mal
       13.500 Euro – das aktuelle Golf-Einstiegsmodell kostet das Doppelte.
       
       Das neue Auto aus Wolfsburg sah aus wie eine kantige Box, bei der jemand
       die überflüssigen Enden mit einem Messer abgeschnitten hat. Ein radikaler
       Schritt: Bis dahin orientierte man sich beim Design von Autos immer noch an
       Kutschen, mit ordentlich Überhang hinten und vorne. Ziemlich unpraktisch,
       was die Raumnutzung angeht. Obwohl der Golf I kürzer war als der Käfer, bot
       er innen mehr Platz.
       
       Die Endversion dieses protestantisch-nüchtern anmutenden Autos schuf
       ausgerechnet ein Italiener. Giorgio Giugiaro, der auch den Fiat Panda
       erfand, sagte 1999 in einem [1][Spiegel-Interview]: „Das Auto ist ein
       Container. Sehen Sie, der Container verkörpert die maximale Rationalität
       der Raumnutzung – das ist logisch. Machen Sie einfach nur eine Kugel und
       einen Würfel mit demselben Durchmesser. Der Würfel bietet mehr Platz.
       Genauso ist das mit den Autos. Je rundlicher sie sind, desto enger sind
       sie.“
       
       ## Der Golf – das wahre linke Auto
       
       Der erste Golf leitete auch das überfällige Ende einer fragwürdigen
       Autoepoche ein. VW wurde mit dem Käfer groß – dem Modell, das einst aus
       Hitlers Befehl hervorging, einen „Kraft durch Freude“-Wagen für die
       Mobilitätsversorgung der Volksgenossen zu entwickeln. Heinrich Nordhoff,
       [2][VW-Chef von 1948 bis 1968, waltete zu NS-Zeiten] als
       „Wehrwirtschaftsführer“ bei Opel, bevor er nach 1945 seine Karriere bei VW
       nahtlos fortsetzen konnte. Nicht nur Nazigedankengut ragte über Jahrzehnte
       breitflächig in die Nachkriegsgesellschaft hinein, sondern auch dessen
       Prestigeprojekt, an dem Nordhoff stur bis zu seinem Tod festhielt. Dabei
       war der Käfer mit seinem luftgekühlten Boxermotor im Heck in den 1960er
       Jahren technisch völlig veraltet – der schwächliche Motor klang wie ein
       benzinbetriebener Rasenmäher und schluckte absurd viel Kraftstoff.
       
       Merkwürdigerweise avancierte der Käfer später zu einem unter Linken
       beliebten Fahrzeug. Ulrike Meinhof war damit auf den Westberliner Straßen
       unterwegs, bevor sie in die Illegalität ging, kalifornische Hippies fuhren
       das NS-Geschöpf ebenso gern. Das wirklich linke Auto aber war der Golf. In
       ihm materialisierte sich der alte Traum, progressive Akademiker und
       Arbeiter miteinander zu verbinden. Der Vorarbeiter fuhr Golf, aber auch der
       Gesamtschullehrer und die Architektin. Der Zeitgeist war damals klar links.
       Zwei Jahre bevor der Golf kam, holte die SPD mit Kanzler Willy Brandt bei
       den Bundestagswahlen 45,8 Prozent.
       
       Ohne diesen Zeitgeist wäre der Erfolg des ersten Golfs – 6,8 Millionen
       Exemplare verließen nach VW-Angaben die Fabrikhallen – nicht möglich
       gewesen. Es war eine Zeit, in der Distinktion, Statussymbole und Abgrenzung
       nach unten eher verpönt waren. Man demonstrierte Klassenlosigkeit,
       funktionell-minimalistisches Design wurde beliebt. Es ist sicher kein
       Zufall, dass 1974 die erste deutsche Ikea-Filiale eröffnete.
       
       VW startete für den Golf eine passende Werbekampagne, die für das behäbige
       Unternehmen geradezu gewagt war. „Ein Auto für breite Kreise“ hieß es in
       einer Anzeige: eine doppelsinnige Anspielung darauf, dass das Auto für
       seine Wagenklasse im damaligen Vergleich ziemlich breit, aber eben auch ein
       tatsächlicher Volks-Wagen war. Noch vorwitziger war der Werbespruch „Golf –
       der neue Volksport“, eine Spitze gegen den Oberklassen-Zeitvertreib. Die
       Botschaft lautete: Es geht nicht mehr darum, denen da oben nachzueifern,
       sondern sein eigenes Ding zu machen.
       
       Heute wäre eine solche Werbung undenkbar. Jetzt geht es um Distinktion und
       Familienwerte: Papa, Mama und Kinder im kitschigen Gegenlicht gefilmt
       steigen glücklich in ihr neues Gefährt. Der VW-Firmenhistoriker Dieter
       Landenberger beschreibt den Golf I gegenüber der taz so: „Der Golf kleidete
       alle angemessen, es galt: Wo der Golf parkt, wohnt die Mitte der
       Gesellschaft.“
       
       Dabei hatte der linke Zeitgeist schon Risse bekommen in dem Moment, als der
       erste Golf die Fabrik verließ. Die wilden Streiks 1973, die von den damals
       so genannten Gastarbeitern ausgingen, zeigten, dass das mit der
       Klassenlosigkeit und der Gleichheit doch nicht so ganz stimmte, denn dabei
       hatte die regierende SPD die Arbeitsmigranten vergessen, die für weniger
       Geld als ihre deutschen Kollegen die dreckigere Arbeit erledigten.
       
       ## Die Tendenzwende
       
       Einen Monat nach der Geburt des Golfs stürzte die linke Ikone Willy Brandt
       als Kanzler; der kühle Pragmatiker Helmut Schmidt übernahm. Die euphorische
       Aufbruchstimmung war dahin, die Reformpolitik wurde gestoppt. Jetzt ging es
       in der Politik um reine Machbarkeit – Historiker sprechen von der
       „Tendenzwende“. Zwar kamen noch die Neuen Sozialen Bewegungen auf, linke
       Subkulturen entstanden. Doch der Mainstream der Gesellschaft wollte von
       Experimenten nichts mehr wissen.
       
       Und VW tat, was jedes kapitalistische Unternehmen macht, wenn es ein
       Erfolgsprodukt hat: Es diversifizierte. Der Golf GTI kam später als
       hochmotorisierte Sportwagenversion, und als Zweitwagen für die obere
       Mittelschicht wurde das Golf Cabrio geschaffen. Den einen Golf für alle gab
       es nicht mehr. Die vielen weiteren Modellreihen – inzwischen ist der Golf 8
       auf dem Markt – wurden immer austauschbarer im Design, das schon längst
       nichts Kantiges mehr hat.
       
       Im Jahr 1983 lief der letzte Golf I vom Band, im selben Jahr gewann Helmut
       Kohl von der CDU seine erste Bundestagswahl. Das passt: Es war das Jahr, in
       dem das linke Jahrzehnt endgültig vorbei war.
       
       28 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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