# taz.de -- Shincheonji-Sekte aus Südkorea in Berlin: Ein Unsterblicher und seine Anhänger
       
       > Seit 20 Jahren missioniert die südkoreanische Sekte „Shincheonji“ in
       > Berlin – meist unbemerkt. Ein Aussteiger berichtet.
       
 (IMG) Bild: Aussteiger Lasse Selck vor der Herz-Jesu-Kirche im Ortsteil Prenzlauer Berg
       
       BERLIN taz | In den unscheinbaren Hinterhöfen Berlins findet sich viel.
       Läden, Wohnungen, Büros – und manchmal auch eine südkoreanische Sekte. Im
       Spätsommer 2023 hört der jetzt 22-jährige Lasse Selck in einem dieser
       Hinterhöfe Gesang und trifft auf eine junge Frau, die vor dem Eingang
       wartet. Sie tauschen ihre Kontaktdaten, und so tritt Lasse zu Shincheonji
       ein.
       
       „Shincheonji“ ist der koreanische Name einer christlichen Sekte, die 1984
       von einem Prediger namens Lee Man Hee gegründet wurde. Übersetzt bedeutet
       er „Neuer Himmel, neue Erde“. Die Mitglieder sehen sich als letzte Vorboten
       der Endzeit, deren Aufgabe es ist, die Menschheit in ihrer Gemeinde
       aufzunehmen.
       
       Seit ihrer Gründung missioniert die Gruppe aggressiv auf der ganzen Welt.
       Auch in Berlin ist die Sekte aktiv. Die Berliner Organisation tarnt sich
       aber mit dem Namen „Bibel-Akademie Berlin“. Es gibt viele Wege, auf denen
       Menschen zu der Sekte kommen – mitunter soll sie sogar auf Dating-Apps wie
       Bumble aktiv sein, wie die Evangelische Informationsstelle für Sekten
       erklärt.
       
       Die Gruppe setzt Mitglieder wohl immer wieder stark unter Druck, um die
       Lehren des Anführers zu verbreiten, wie die Evangelische Kirche Westfalens
       angibt. Die Gruppe praktiziere eine „in bisher unbekanntem Maßstab
       ausgefeilte strategische Missionstaktik“. Mitglieder brechen demnach häufig
       nicht nur ihre Jobs und ihr Studium ab, sondern auch ihre sozialen
       Beziehungen – selbst zur Familie. Viele Aussteiger*innen leiden unter
       Paranoia.
       
       ## Freundliche Menschenfänger
       
       Lasse Selck war nur für einige Monate Mitglied, da er sich früh entschied,
       die Gruppe wieder zu verlassen. Der hochgewachsene junge Erwachsene mit
       wilder Frisur arbeitet schon seit Jahren als Fundraiser, will aber vor
       allem Musiker werden. Selck begab sich auf die Suche nach einem Glauben,
       mit dem er sich identifizieren konnte. Zuerst griff er zur Bibel, dann zum
       Koran. Doch dann landete er bei Shincheonji.
       
       „Ich bin direkt zu einer der Veranstaltungen gegangen. Das war ein offener
       Kurs mit vielen jungen Leuten. Ich war extrem positiv überrascht, wie
       freundlich die Menschen da waren“, berichtet Lasse Selck von seiner ersten
       Begegnung mit der christlichen Sekte.
       
       Aber bereits auf der Veranstaltung, die Shincheonji als „Ernte“ bezeichnet,
       um Neumitglieder zu gewinnen, zeigt sich, wie die Gruppe arbeitet: „Einige
       sagten dann: ‚Ah ja, wir wissen schon von dir.‘ Das fand ich interessant,
       ungefähr ein Viertel der Leute da kannten meinen Namen.“ Daran schloss sich
       eine Lehrstunde zum „Baum des Lebens“ an, die beinahe vorüber war, als der
       Leiter ankündigte: „Den Rest erfahrt ihr im nächsten Kurs.“ Lasse Selck
       entschloss sich prompt, den kostenlosen Kurs zu besuchen.
       
       Es begann mit zweistündigen Unterrichtseinheiten an drei Tagen pro Woche.
       Man durfte nie fehlen, auch wenn man krank war, ansonsten wurde man von der
       Gruppe ausgegrenzt. Selck gibt zu: „Ich war nicht so vorsichtig wie sonst.
       Eigentlich habe ich eine gute mentale Firewall.“ In diesem Kurs – der via
       Zoom stattfand – konnte Lasse Selck schnell eine Beobachtung machen: „Ich
       bin ja Fundraiser, und dabei lerne ich, Menschen zu überzeugen. Und dann
       dachte ich: Hm, die machen ja genau dasselbe hier wie ich.“
       
       ## Von Freunden und Verwandten isoliert
       
       Dann begann Shincheonji, ihn zu bearbeiten. „Ich habe bemerkt, wie sie
       versuchen, meine sozialen Zirkel abzukappen.“ Diese Vorgehensweise der
       Gruppe identifiziert Lasse Selck als „die Hauptdynamik, die die benutzen.
       Sie sagen: ‚Gott will zu dir finden, aber Satan will dich ablenken.‘ Satan
       wird dann zum Synonym für alle äußeren Einflüsse.“
       
       Als ein solcher „äußerer Einfluss“ gilt auch die Familie. Dazu kommt, dass
       Shincheonji Neumitglieder mitteilt, gegenüber Uneingeweihten nicht über
       die Gruppe zu sprechen. Außerdem erinnert sich Lasse Selck: „Erst nach vier
       oder fünf Wochen wusste ich überhaupt, wie die Organisation heißt.“
       
       Der Name war Lasse Selck anfangs nur unter dem Pseudonym bekannt. Die Sekte
       will sich damit Uneingeweihten erst nach einigen Monaten der Mitgliedschaft
       mit ihrem Namen zu erkennen geben. Grund dafür ist, dass sie Angst haben,
       dass Neumitglieder, die den Namen kennen, über die Gruppe recherchieren,
       und Artikel finden, die die Sekte kritisch beleuchten.
       
       Bei einer Lehrstunde des Kurses fand Lasse Selcks Vater durch Zufall
       heraus, welcher Gruppe sein Sohn sich anschloss. Daraufhin findet er
       Erfahrungsberichte von Ex-Mitgliedern über die Sekte im Internet, die von
       Shincheonji abraten. Die Argumente seines Vaters jedoch interessierten
       Lasse Selck anfangs nicht, doch als er über den Anführer der Gruppe
       aufgeklärt wird, ändert sich seine Meinung.
       
       ## Ein Anführer mit dunkler Vergangenheit
       
       Laut Steve Matthews, einem Amerikaner, der sich seit Jahren mit Shincheonji
       beschäftigt, behauptet der südkoreanische Anführer, unsterblich zu sein.
       Außerdem war dieser zuvor bereits in einer anderen Sekte aktiv. Darüber
       hinaus wurde der „neue Johannes“ 2022 der Korruption für schuldig befunden
       und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Diese Informationen verfestigten
       Lasse Selcks Zweifel noch.
       
       Lee Man Hee wurde in dem Kurs nicht einmal erwähnt. „Man wird dort sehr
       lange im Dunkeln gehalten, erst stückchenweise werden Infos über die Gruppe
       gefüttert“, sagt Selck. Nach dem Äußern seiner Zweifel in der Gruppe wird
       Lasse Selck mehrmals zu Gesprächen mit seiner Lehrerin Olivia R.
       aufgefordert. Diese Versuche, seine Zweifel auszuräumen, wirkte auf ihn
       „extrem abstrakt und fern von Gott“.
       
       Lasse Selck findet, dass er eigentlich Glück hatte. „Erst danach wurde mir
       bewusst, was für einen riesigen Einfluss das auf meinen sozialen Umkreis
       und meine Weltsicht hatte. Ironischerweise brachte mich die Zeit bei
       Shincheonji dazu, Dinge stärker zu hinterfragen.“ Zugleich scherzt er immer
       wieder im Gespräch über die Gruppe, Shincheonji-Mitglieder würden gleich um
       die Ecke kommen, um ihn doch noch zurückzuholen.
       
       Rückblickend warnt Lasse Selck: „Es gibt sicher Leute, die in schwachen
       oder verwundbaren Phasen da hineingezogen werden, auch wenn sie es
       eigentlich nicht wollen. Der negative Druck, um die Leute in der Gruppe zu
       halten, kann sich bei solchen Menschen auswirken.“ Auf die Frage, was er zu
       einer solchen Person sagen würde, antwortet er: „Sei sehr vorsichtig. Wir
       können da gerne drüber reden – aber mach es lieber nicht.“
       
       Die Frist zur Beantwortung der Frage, ob Shincheonji die Vorwürfe,
       Mitglieder zu manipulieren und unter Druck zu setzen, kommentieren wolle,
       ließ die Pressestelle der Gruppe unbeantwortet.
       
       16 Apr 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Leonard Hennersdorf
       
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