# taz.de -- Tag der Arbeitsbelastung: Wenn die Arbeit immer dichter wird
       
       > Arbeitszeitverdichtung und psychische Belastung rücken ins Zentrum vieler
       > Arbeitskämpfe. Vier Arbeitnehmer*innen erzählen von ihrem
       > Arbeitsalltag.
       
 (IMG) Bild: Besonders Pfleger:innen gelten als Burnout-gefährdet
       
       Arbeitszeitverdichtung und psychische Belastung rücken aktuell ins Zentrum
       vieler Arbeitskämpfe. Lehrer*innen, Erzieher*innen, Pflegekräfte,
       Busfahrer*innen – sie klagen über die hohe Arbeitsbelastung und gehen
       dafür auch auf die Straße. Geld allein ist nicht die Lösung. In diversen
       Streiks kämpfen sie für bessere Arbeitsbedingungen. Wächst der Psychostress
       in der Arbeitswelt?
       
       Das [1][kommt auf die Branche an], weiß die Wissenschaft. Vor allem Berufe,
       in denen „Interaktionsarbeit“ geleistet werden muss, sind betroffen. Wer
       das Gefühl hat, den Stress nicht mehr kontrollieren zu können, trägt ein
       hohes Burnout-Risiko. Wenn Handlungsspielräume schrumpfen, sich Arbeit und
       Freizeit vermischen und die Führung eine*n nicht wertschätzt, kann der
       Arbeitsplatz zum Alptraum werden. Arbeitnehmer*innen aus vier Branchen
       erzählen über Arbeitsverdichtung sowie die kleinen und großen Belastungen
       ihres Arbeitsplatzes.
       
       ## „Ich wurde zynischer“
       
       Matthias Kortig* arbeitete mehrere Jahre in einem Jobcenter, sowohl als
       Sachbearbeiter als auch als Führungskraft 
       
       Die Arbeit in den Jobcentern ist stark von politischen Entscheidungen
       geprägt. Gefühlt kommen ständig neue Aufgaben und Themen hinzu. Und zwar,
       ohne dass andere Aufgaben wegfallen würden oder es einen Personalausgleich
       gibt. Das frustriert. Hinzu kamen höhere Arbeitsbelastungen, etwa durch die
       Integration von Geflüchteten aus Nahost ab 2014/15 und später [2][aus der
       Ukraine] oder die Bürgergeldreform.
       
       Letztere hat das SGBII komplett auf den Kopf gestellt. Als 2015 so enorm
       viele Flüchtlinge ankamen, mussten wir uns in vollkommen neue Rechtsgebiete
       einarbeiten. Hinzu kamen die Anerkennungsberatung von Berufsabschlüssen
       oder das Thema Aufenthalt und wer überhaupt hier arbeiten darf. Auch der
       Personalschlüssel geht nicht auf. Deshalb können nicht alle Menschen in der
       gleichen Qualität beraten werden. Klar frustriert das, unter den eigenen
       Ansprüchen zu bleiben.
       
       Als Mitarbeiter bewegt man sich immer in einem Spannungsfeld, die
       vorgegebenen Ziele und Kennzahlen der Geschäftsführung zu erreichen und
       zugleich dem betreuten Arbeitssuchenden das beste Instrument an die Seite
       zu stellen. Zum Beispiel müssen geplante [3][Plätze für Maßnahmen und
       Weiterbildung] in der Regel besetzt werden. Da wird schnell an den Bedarfen
       des einzelnen Arbeitssuchenden vorbei vermittelt. Diese Abhängigkeit vom
       Erreichen der Kennzahlen habe ich immer als sehr frustrierend empfunden.
       Schafft man es, ist alles gut. Wenn nicht, wird alles infrage gestellt.
       
       Ich habe den Job nicht wegen der Arbeitsbelastung aufgegeben, sondern hatte
       eine Chance zur Weiterentwicklung. Aber auch ich habe gemerkt, dass ich
       zynischer wurde. Im Jobcenter zu arbeiten ist psychisch anstrengend. Du
       belastest dich jeden Tag mit den Problemen anderer Menschen. Da muss man
       resilient sein.
       
       Es ist sehr gefährlich, die Leute hier dauerhaft zu überlasten. Das wird im
       Zweifel zu Krankheitsfällen und psychischen Erkrankungen führen. * Name
       geändert; Protokoll: Adefunmi Olanigan
       
       ## „Die Problemlagen werden mehr“
       
       Liliane Rosar-Ickler ist stellvertretende Landesvorsitzende der GEW
       Saarland und sozialpädagogische Leiterin an einer gebundenen
       Ganztagsgrundschule 
       
       Bei uns arbeiten Lehrkräfte und Erzieher*innen im Tandem. Hinter dem
       Konzept unserer Ganztagsschule steht die Idee, Unterrichtsinhalte mit
       pädagogischen Angeboten am Nachmittag zu verknüpfen. Beispielsweise nehmen
       die Kinder im Unterricht das Thema Wind durch, und mit den
       Erzieher*innen bauen sie in Kleingruppen eine Windmessstation. Das sind
       die schönen Momente unserer Arbeit.
       
       Aber in letzter Zeit klappt das eher selten, wegen der Personalausfälle.
       Fast täglich reicht der Personalschlüssel nicht aus. Unser Träger hat zwar
       ein Springerkräftesystem, aber es kann die massiven Ausfälle nicht
       kompensieren. Und es wird immer schwerer, Fachkräfte zu gewinnen. Dann
       schafft man [4][nur noch, die Aufsicht zu gewährleisten], den Alltag zu
       regeln. Das frustriert natürlich, das eigene Handwerk nicht ausführen zu
       können. Es ist auch ein Grund für die hohe Fluktuation in unserem Bereich.
       
       Die Problemlagen werden mehr, aber die Ressourcen weniger. Die
       Einrichtungen werden größer, da immer mehr Plätze gebraucht werden. Hier
       spüre ich die Verdichtung auch im Administrativen. Hinzu kommen besondere
       Umstände, wie Corona. Andererseits sind da die vielen Päckchen, die die
       Kinder mit sich tragen: Fluchterfahrung oder existenzielle Ängste in der
       Familie durch Armut. Ich arbeite in einem der ärmeren Stadtteile. Viele der
       Kinder und Familien haben Multiproblemlagen. Das hat sich zuletzt
       verstärkt.
       
       Als Leitung vermittle ich auch in weitere Fachhände. Oft muss ich
       vertrösten, weil auch im Frauenhaus oder in der Jugendhilfe die Ressourcen
       fehlen. Der Versuch, Familien hier unter die Arme zu greifen, bindet extrem
       viel Zeit und potenziert sich mit den erhöhten Schüler*innenzahlen.
       Eigentlich bräuchten sie eine sehr viel intensivere Zuwendung, als wir sie
       bieten können. Dann vertraut sich ein Kind uns an, aber uns fehlt oft
       einfach die Zeit. Am Ende geht man mit schlechtem Gewissen und dem Gefühl
       nach Hause, dem Kind nicht gerecht worden zu sein. Protokoll: Adefunmi
       Olanigan
       
       ## „Wir müssen effektiver und schneller werden“
       
       Christian Merder arbeitet seit 2014 in der Produktion von Volkswagen 
       
       Von Tag eins an bin ich in der Produktion, immer im selben Team. Ich
       verbaue bei der Arbeit das Cockpit, mein Team verlegt in dem Zuge auch die
       kompletten Kabelstränge im Auto. Das Ganze funktioniert nur, wenn ein Rad
       ideal ins nächste greift. Nur wenn der eine dem anderen hilft, eben als
       Team.
       
       Seit ich 2014 angefangen habe, hat sich vieles verändert, weil die ganze
       Automobilbranche sich komplett gedreht hat. Mit dem Thema Elektromobilität
       ist der Druck auf Volkswagen natürlich größer geworden durch [5][sehr viel
       Konkurrenz, die man vorher im Verbrenner-Segment nicht hatte].
       
       Deswegen erleben wir eine Arbeitsverdichtung. Wir müssen effektiver und
       schneller werden, mehr Arbeitsschritte schaffen. Und all das mit der
       gleichen Anzahl an Leuten. Es ist halt einfach so, dass die Fahrzeuge von
       heute viel hochwertiger ausgestattet sind. Man hat viel mehr elektronische
       Bauteile und braucht deswegen etwa mehr Kabel, mehr Steuergeräte.
       
       Andere Unternehmen bauen ein Fahrzeug in 22 Stunden, ehe es beim Kunden
       ankommt. Zurzeit brauchen wir für unsere Fahrzeuge noch länger, auch weil
       unsere Modelle oft komplexer sind. Da versucht man natürlich, alles zu
       komprimieren, dass man so nah wie möglich an die Produktionszeit der
       Konkurrenz rankommt. Das ist nicht immer ganz einfach.
       
       Aber es wird auch ein großes Augenmerk auf Ergonomie gerichtet, darauf,
       dass die Arbeitsbedingungen auch zu uns Mitarbeitern passen. Das ist
       wichtig, weil wir nur mit einer guten, beständigen Mannschaft auch gute
       Autos bauen können. Würden wir ständig das Personal austauschen, könnten
       wir die Qualität nicht gewährleisten.
       
       Ich bin immer noch jeden Tag froh, hier zu sein. Auch wenn sich vieles
       verändert hat, ist Volkswagen der attraktivste Arbeitgeber, den wir hier im
       Umkreis weit und breit haben. Protokoll: Carlo Mariani
       
       ## „Ich wurde geräuschempfindlich, bekam Schlafstörungen“
       
       Luca Resonnek*, Ärzt*in, kündigte nach einem Jahr Krankenhaus wegen
       Überarbeitung, pausierte im Anschluss anderthalb Jahre und ist aktuell in
       einer ambulanten Praxis beschäftigt 
       
       Nach meinem Studium fing ich im Krankenhaus in der Chirurgie an. Nach drei
       Monaten war ich allein für Nachtdienste zuständig. Mein erster war
       besonders hart: Ich bin nur gerannt, Flexülen legen, Wunden angucken,
       Verbände wechseln, bei einer Notoperation assistieren, zwei Stationen und
       die Wachstation im Blick behalten, runter in die Rettungsstelle.
       Hingesetzt habe ich mich nach 16 Stunden das erste Mal, direkt vor der
       Übergabe.
       
       Am schlimmsten waren die [6][26-Stunden-Dienste von Samstag auf Sonntag].
       Mal hat man geschlafen, mal nicht, meist zwei, drei Stunden. Offiziell
       heißt das „Bereitschaftszeit“, denn 24 Stunden durcharbeiten ist nicht
       legal. Als ich anregte, dass wir unsere tatsächliche Schlafzeit mal
       notieren, hieß es: Auf keinen Fall! Dann bricht das ganze System zusammen.
       
       Aber wenn man so lange auf den Beinen ist, schwindet irgendwann die
       Konzentration. Einmal stand ich in der Rettungsstelle vor einer Frau, ihr
       Bauch war reflexhaft angespannt, ein Alarmzeichen, es könnte ein Organ
       geplatzt sein. Ich versuche also übermüdet zu verstehen: Wann fingen ihre
       Schmerzen genau an? Die Patientin redet, aber ich bin nicht mehr
       aufnahmefähig. Was tun? Irgendwie weitermachen, später heulen.
       
       Zu Hause habe ich Entspannungsübungen und Schlafmittel ausprobiert. Ich
       wurde geräuschempfindlich, bekam Schlafstörungen. Man muss viel emotional
       verarbeiten, aber dafür ist keine Zeit. Ein Beispiel: Ich assistiere bei
       einer Operation, wir haben die Hände im Bauch eines Mannes, um eine Blutung
       zu stoppen. Irgendwann ist klar: Entweder er verblutet jetzt auf dem Tisch,
       oder wir nähen dieses Blutgefäß zu und er wird vermutlich daran sterben.
       
       Direkt danach musste ich in die Rettungsstelle und mich um einen kleinen
       Riss am Po eines Patienten kümmern, es geht einfach weiter. Das muss man
       erst mal hinkriegen! Es gibt keine Supervision, keine Nachbesprechungen.
       Meine Kolleg*innen waren alle engagiert, [7][gleichzeitig ist in diesem
       System kaum Raum für Empathie], nicht für Patient*innen, nicht für uns.
       Nach einem Jahr wusste ich: Ich kündige. Ich war ausgebrannt. Ich habe
       anderthalb Jahre gebraucht, um zu entscheiden, ob ich es noch mal ärztlich
       versuchen will. *Name geändert; Protokoll: Jasmin Kalarickal
       
       1 May 2024
       
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