# taz.de -- Analyse zum Gazakrieg: Netanjahus riskantes Spiel
       
       > Einen Geisel-Deal mit der Hamas schlägt Israels Premier aus, stattdessen
       > lässt er die Grenze zwischen Gaza und Ägypten besetzen. Was ist sein
       > Kalkül?
       
 (IMG) Bild: Gegen Netanjahus Regierung, für die Freilassung der in Gaza gefangenen Geiseln: Protest in Tel Aviv am 4. Mai
       
       Netanjahu pokert hoch – vielleicht so hoch wie noch nie. Am vergangenen
       Wochenende [1][ließ die Hamas verlauten, sie stimme einem
       Waffenstillstandsangebot zu]. In Rafah, wo seit Monaten 1,5 Millionen
       Binnenflüchtlinge unter katastrophalen Bedingungen und auf engstem Raum
       zusammengedrängt Schutz suchen, waren die Jubelstürme groß. Doch kurz
       darauf kam die Ernüchterung, als die israelischen Panzer auf Rafah
       zurollten. Wenige Stunden zuvor waren aus Rafah Geschosse auf Israel
       abgefeuert worden und hatten vier Soldat*innen getötet.
       
       In Tel Aviv hatten sich die Familienangehörigen von Geiseln und
       Protestierende den Jubel gleich gespart. Als hätten sie geahnt, dass
       Netanjahu den Deal ablehnen und stattdessen das israelische Militär
       veranlassen würde, den Rafah-Grenzübergang nach Ägypten zu besetzen und zu
       schließen.
       
       Dabei war der Druck auf Netanjahu, diesen Schritt nicht zu gehen, denkbar
       hoch – und jetzt liegt die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf der Frage,
       was als nächstes in Rafah passieren wird. Bislang ist das Militär noch
       nicht in die Stadt selbst eingedrungen. Aber wird es noch zu der lang
       geplanten, großangelegten Invasion kommen?
       
       Die Vereinten Nationen und mehrere Hilfsorganisationen drängen Israel
       darauf, den Angriff auf Rafah zu beenden. Aus der Europäischen Union kamen
       heftige Verurteilungen. Auch auf den Straßen in Tel Aviv entlädt sich der
       Zorn: Viele Angehörige von Geiseln fürchten um das Leben ihrer Liebsten
       angesichts der Invasion und glauben, dass diese einen erneuten Deal
       verunmöglichen könnte.
       
       ## Amerikas Unterstützung brökelt
       
       Vor allem aber riskiert Netanjahu einen handfesten Bruch mit den USA.
       US-Präsident Joe Biden hatte immer wieder moniert, dass Israel keinen Plan
       habe, wie die Zivilist*innen bei einer Bodenoffensive ausreichend
       geschützt werden könnten. Rafah sei eine rote Linie. Wie ernst es ihm damit
       ist, zeigte sich am Mittwoch, als die [2][Meldungen über den Stopp von
       Waffenlieferungen aus den USA die Runde machten].
       
       Bereits in der Woche zuvor war bekannt geworden, dass die USA eine
       Lieferung von ungelenkten 2.000-Pfund-Bomben ausgesetzt haben, deren Abwurf
       in dicht bevölkerten Gegenden viele Todesopfer fordert. Am Mittwoch
       erklärte sich Biden dann persönlich gegenüber CNN: Seine Regierung werde
       Israel weder unterstützen noch mit Angriffswaffen versorgen, falls das
       Militär eine Operation gegen die Hamas in bewohnten Teilen von Rafah im
       südlichen Gazastreifen startet: „Ich habe Bibi und dem Kriegskabinett
       klargemacht: Sie werden unsere Unterstützung nicht bekommen, wenn sie in
       diese Bevölkerungszentren eindringen.“
       
       Netanjahus rechtsextreme Minister reagierten prompt. Der Minister für
       Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, setzte auf X ein Herz zwischen Hamas
       und Biden: „[3][Hamas liebt Biden]“ war seine Botschaft.
       
       Den radikal-religiösen Zionisten kauft man ihre Verachtung für die
       Warnsignale der USA ab. Sie interessiert vor allem eins: Gott. Und mit Gott
       folgen sie dem ihnen von ihm vermeintlich verliehenen Auftrag, Erez Israel
       zu besiedeln, vom Fluss bis zum Meer. Was irgendwelche Großmächte, und
       seien es die USA, zu sagen haben – es könnte sie nicht weniger kümmern.
       
       ## Die eigenen Interessen im Kopf
       
       Und Netanjahu? Man kann die schärfste Kritiker*in Netanjahus sein und
       sich doch fragen: Nimmt er wirklich einen Bruch mit den USA hin, um seine
       Regierungskoalition zu retten? Wird er in Kauf nehmen, die Existenz seines
       Landes aufs Spiel zu setzen? Wie weit wird er, der das Land Israel so lange
       anführt wie kein Ministerpräsident zuvor, noch gehen?
       
       Dass Netanjahu nur seine eigenen Interessen im Kopf hat, ist unter seinen
       Kritiker*innen Common Sense. Seine größte Sorge gilt in ihren Augen:
       Neuwahlen. Netanjahu kennt die Umfrageergebnisse. Seinen Posten wäre er
       los; auch wenn seine Beliebtheit nach einer dramatischen Talfahrt nach dem
       7. Oktober wieder zu steigen beginnt. Für Netanjahu, der in drei
       Korruptionsfällen vor Gericht steht, ist es ein albtraumartiges Szenario.
       
       Tatsächlich wäre mit einem Deal wie dem vom vergangenen Wochenende ein
       Koalitionsbruch wohl ausgemacht. „Keine Existenzberechtigung“ habe die
       Regierung, schrieb der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich Ende
       April auf X, sollte Netanjahu das kursierende Waffenstillstandsangebot
       annehmen.
       
       Und Ben Gvir legte mit einer Videobotschaft nach: „Ich habe den
       Ministerpräsidenten [vor den Folgen] gewarnt, wenn, Gott bewahre, Israel
       nicht in Rafah einmarschiert, wenn, Gott bewahre, wir den Krieg beenden,
       wenn, Gott bewahre, es eine unbedachte Übereinkunft geben wird.“
       
       ## Alles im Schwebezustand halten
       
       Und so versucht Netanjahu, die Entwicklungen in einem Schwebezustand zu
       halten. Keine großangelegte Invasion, zumindest bislang nicht, aber doch
       eine Besänftigung seiner Hardliner-Koalitionspartner. Kein Abkommen, aber
       die Gespräche weiter laufen lassen – mit einer Delegation ohne wirkliches
       Mandat. Im Moment befinden sich die Verhandlungen wieder in einer
       Sackgasse.
       
       Für Gayil Talshir, Politikwissenschaftlerin und Netanjahu-Expertin, ist
       dies das klassische Verhalten des Premierministers. „Netanjahu ist ein
       Staatsführer, der verschiedene Optionen entwirft, sie in die Luft wirft und
       dann in letzter Sekunde entscheidet, was er tun wird.“ Je nachdem, was für
       ihn gerade opportun ist.
       
       Doch was gerade opportun ist, ist für Netanjahu derzeit schwer zu erkennen.
       Die Fragen, die die Israelis gerade umtreiben, sind existenziell, es geht
       um das Leben der Geiseln, um die Frage, ob die von der Nordgrenze und von
       den Gebieten in der Nähe zum Gazastreifen evakuierten Anwohner*innen in
       ihre Häuser werden zurückkehren können – und nicht zuletzt um die Existenz
       des Staates Israel selbst. Die Menschen stehen sich in ihren
       Schlussfolgerungen zum Teil diametral gegenüber, aber gemeinsam haben sie:
       Sie fühlen sich existenziell bedroht. Dementsprechend groß ist der Zorn.
       
       „Die Straßen würden brennen“, sagt ein politischer Berater aus
       Likud-Kreisen, der anonym bleiben will, „sollte Netanjahu einen solchen
       Deal annehmen.“ Ob es wirklich dazu kommen würde, ist fraglich. Dafür ist
       die Menge an radikalideologischen Hardlinern und religiösen Zionisten zu
       klein. Doch möglicherweise würden ihm einige Wähler*innen, die noch oder
       wieder bereit sind, ihm seine Stimme zu geben, einen solchen Deal nicht
       verzeihen.
       
       ## Zu große Zugeständnisse
       
       Für sie ist klar, dass die Ankündigung der Hamas kein ernstzunehmendes
       Angebot war. Tatsächlich weicht der von der Hamas akzeptierte Deal in
       einigen Punkten von dem ägyptischen Vorschlag ab, an dessen Entwicklung
       auch Israel beteiligt war.
       
       In dieser Version wären die Zugeständnisse an die Hamas viel zu groß, so
       der Likud-Berater: „33 Geiseln, von denen unklar ist, wie viele schon tot
       sind – das ist doch kein Angebot.“ Hinzu käme, dass sämtliche Menschen in
       Gaza sich hätten frei bewegen und auch in den von Israel abgeriegelten
       Norden hätten zurückkehren dürfen. Das würde einem Ende des Krieges nahe
       kommen: „Wir hätten einige der Geiseln zurück, viele von ihnen bereits tot.
       Die Hamas wäre weiter an der Macht – und könnte bald ihr nächstes Massaker
       starten“, so der Politikberater. Mit dieser Logik setzt die Rechte weiter
       auf militärische Stärke. Und auf eine Invasion in Rafah.
       
       „Netanjahu hatte eigentlich keine andere Wahl. Er hat seit Langem –
       unsinnigerweise – eine Invasion in Rafah als letzten Schritt auf dem Weg zu
       einem ‚totalen Sieg‘ gezeichnet“, sagt Gayil Talshir.
       
       Die ist aus der Sicht des Militärexperten Kobi Michael vom israelischen
       Forschungsinstitut INSS weniger relevant wegen der vier Hamas-Bataillone,
       die sich in der südlichen Grenzstadt in den Tunneln versteckt halten.
       Zentral sei vielmehr das Tunnelsystem, das Ägypten und Gaza verbindet. Das
       israelische Militär vermutet, dass dort Geld, Waffen und für den Bau von
       Waffen verwendete Materialien über die Grenze geschmuggelt werden. „Sollten
       wir den Krieg beenden, ohne die Tunnel blockiert zu haben, würden wir Hamas
       oder jeder anderen Terrororganisation ermöglichen, ihre militärischen
       Fähigkeiten neu aufzubauen“, sagt Michael gegenüber der taz.
       
       ## Kein Nachkriegsplan
       
       Andere Analyst*innen betonen hingegen: Rafah wird kein Stalingrad sein.
       Die Hamas wird in Rafah nicht endgültig besiegt werden, so wie sich die
       Hamas überhaupt militärisch nicht besiegen lasse.
       
       Bis heute hat Benjamin Netanjahu keinen Plan für ein Nachkriegsgaza
       vorgelegt. Wie soll die Hamas besiegt werden? Was soll auf sie folgen? Wer
       soll den Gazastreifen wieder aufbauen? Diese Fragen bleiben bislang
       unbeantwortet.
       
       Glaubt man Talshir, wird Netanjahu am Ende wohl nach einem der Bälle
       greifen, die er in die Luft geworfen hat, in der Hoffnung, dass er damit
       sein politisches Überleben sichern kann. Und wenn dabei der Landstrich
       zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer nicht den Abgrund hinunterjagt, ist
       dies für ihn gut. Notwendige Bedingung ist es für ihn – allem Anschein nach
       – allerdings nicht.
       
       10 May 2024
       
       ## LINKS
       
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