# taz.de -- Psychiatrische Betreuung zu Hause: Das fahrende Behandlungszimmer
       
       > In besonderen Fällen kommt die Psychiatrie nach Hause. Und erreicht so
       > Menschen, für die es bisher keine passende Unterstützung gab.
       
 (IMG) Bild: Ärztin Julia Göbel-Erkan (links) und Oberarzt Dominik Laumann (rechts) besuchen ihre Patient*innen mit dem E-Bike
       
       Das Wohnzimmer ist ein Ort, an dem sich Machtverhältnisse verschieben. Das
       weiß auch Ärztin Julia Göbel-Erkan. An einem Mittwochvormittag, Ende April,
       steht die 36-Jährige im Wohnzimmer von Olaf Klaasen: schwarzes Ledersofa,
       daneben ein Holzregal, in dem sich Dutzende Puzzles stapeln. Göbel-Erkan
       fragt höflich, wo sie Platz nehmen darf: „Überall, nur nicht dort hinten“,
       antwortet Klaasen. Der groß gewachsene Mann, Ende 50, weißgraue Haare,
       zeigt auf einen Sessel am Ende des Raumes: „Das ist mein Platz.“
       
       Das heutige Therapiegespräch findet nicht in einer Praxis statt, auch
       nicht in der Klinik. Göbel-Erkan ist zu Gast bei ihrem Patienten. Hier hat
       er das Sagen. Die Ärztin nickt lächelnd, zieht einen Stuhl unter dem
       Wohnzimmertisch hervor, schlägt die Beine übereinander. „Wie geht es Ihnen
       denn heute, Herr Klaasen?“ Kurze Stille. „Ganz gut“, murmelt Klaasen aus
       seinem Sessel. Er habe in den letzten Tagen keine „schweren Zustände“
       gehabt. Auch keine „Elendsgefühle“, erzählt er.
       
       Olaf Klaasen wohnt in Köln und heißt eigentlich anders. Er hat darum
       gebeten, in dieser Geschichte nicht mit seinem richtigen Namen
       aufzutauchen. Klaasen lebt seit mehr als 20 Jahren mit einer paranoiden
       Schizophrenie. Wenn die Elendsgefühle, wie er sie nennt, ihn überwältigen,
       dann ziehen dunkle Wolken in seinem Kopf auf. Klaasen wird plötzlich
       speiübel, und die Angst, von einem Tag auf den anderen sein gesamtes Geld
       zu verlieren oder, noch schlimmer, einen unerwarteten Tod zu sterben,
       übernimmt das Kommando in seinem Kopf.
       
       Weil Klaasen immer wieder depressive und [1][psychotische Schübe] hat, ist
       er dauerhaft in Behandlung. Psychisch kranke Menschen wie Klaasen landen in
       besonders schlechten Phasen meist für mehrere Wochen in der Psychiatrie.
       Vollstationär untergebracht, mit weißen Bettbezügen und Betreuung rund um
       die Uhr. Doch Olaf Klaasen will überhaupt nicht raus aus seiner Wohnung.
       Und seit Kurzem muss er das auch nicht mehr: Die Psychiatrie kommt zu ihm
       nach Hause.
       
       Klaasen ist einer der wenigen psychisch erkrankten Menschen in Deutschland,
       die „stationsäquivalent“ behandelt werden. Zu Hause, in ihren eigenen vier
       Wänden. Obwohl es die Möglichkeit gesetzlich schon seit 2018 gibt, ist die
       Behandlungsform nach wie vor eine Nische in der psychiatrischen Versorgung.
       Die Alternative richtet sich an Menschen wie Olaf Klaasen, die in einer
       schweren psychischen Krise sind und sonst nur mehrere Wochen
       vollstationär in einer Klinik unterkommen könnten.
       
       Stattdessen bekommen sie täglich Besuch von medizinischem Fachpersonal. Die
       Idee dahinter: Wer beispielsweise schwer depressiv ist, der hat manchmal
       schon Schwierigkeiten, überhaupt das Bett zu verlassen. Wie soll in einem
       solchen Zustand von einem Menschen erwartet werden, zu einer ambulanten
       Therapie zu gehen? Oder sogar für mehrere Wochen in eine Klinik zu ziehen?
       Bei einer Behandlung im Wohnzimmer ist das nicht nötig. Trotzdem bieten von
       den 400 psychiatrischen Kliniken in Deutschland nur rund 70 die
       Behandlungsform an.
       
       Eine davon liegt im Kölner Stadtteil Mülheim. Hier ist es vor allem einem
       Mann zu verdanken, dass es dieses Angebot gibt. An einem Mittwochmorgen,
       Ende April, sitzt Dominik Laumann, 57, im Besprechungsraum der
       psychiatrischen Klinik des Landschaftsverbands Rheinland (LVR). Laumann ist
       Oberarzt und hat alles monatelang vorbereitet. Wieso der ganze Aufwand im
       [2][ohnehin schon stressigen Klinikalltag?] „Wir wollen damit Menschen
       erreichen, für die es sonst kein passendes Hilfsangebot gibt“, erklärt
       Laumann mit ernster Stimme.
       
       Nun ist es aber nicht so, dass die Kliniken und Ärzt*innen frei
       entscheiden können, ob sie die Patient*innen lieber zu Hause oder in
       der Klinik behandeln. Zusätzlich zum organisatorischen Aufwand schrecken
       die Regeln für die Therapie zu Hause viele Einrichtungen ab. Es müssen
       mehrere strenge Bedingungen erfüllt werden. So lautet etwa eine Vorgabe,
       dass Fachkräfte aus verschiedenen Berufen die Patient*innen in ihren
       eigenen vier Wänden betreuen – genau wie bei einem vollstationären
       Klinikaufenthalt.
       
       Und so kommt es, dass an diesem Mittwochmorgen fünf verschiedene Fachkräfte
       neben Oberarzt Laumann am Besprechungstisch in der Klinik sitzen. Es ist
       8.30 Uhr, und die wöchentliche Sitzung des mobilen Psychiatrieteams in
       Mülheim beginnt. Eine Kanne Filterkaffee wandert von Platz zu Platz, von
       Psychologin zu Ergotherapeutin, von Pflegekraft zu Sozialarbeiter, von
       Oberarzt zu Assistenzärztin.
       
       Die Teammitglieder besuchen die Patient*innen abwechselnd, meistens
       allein. Fast jeder Besuch sieht anders aus. Mal begleiten sie die
       Patient*innen zum Arbeitsamt, malen gemeinsam ein Bild, spielen
       Kartenspiele wie Uno, spazieren zusammen durch die Stadt, mal führen sie,
       ganz klassisch, therapeutische Gespräche.
       
       ## Vorrang hat, wem es besonders schlecht geht
       
       Eine Stunde lang erzählen sie sich von ihren letzten Besuchen bei den
       Patient*innen. Es sind nüchtern vorgetragene Berichte über häusliche und
       sexuelle Gewalt, schwere Depressionen, Selbstverletzungen und konkrete
       Suizidgedanken. Die Menschen, um die es dabei geht, sind alleinerziehende
       Mütter, ältere Männer, Studierende. Sie kommen aus unterschiedlichen
       Milieus, haben verschiedene Krankheiten.
       
       Nur eine Sache haben sie alle gemeinsam: Sie wohnen maximal 20 Minuten
       Autofahrt von der Klinik entfernt. „Wir mussten einen Radius um die Klinik
       ziehen, sonst könnten wir die aktuelle Zahl der Patienten nicht stemmen“,
       erklärt Oberarzt Laumann.
       
       Wer in das Programm aufgenommen wird, bestimmt nicht nur der Wohnort. Wer
       [3][suchtkrank] ist und häufig Alkohol oder andere Drogen konsumiert, fällt
       raus. Das liegt auch an dem damit verbundenen Risiko, dem die Behandelnden
       in den vier Wänden ihrer Patient*innen ausgesetzt sind. Ein weiteres
       Ausschlusskriterium: Wer sich, meist krankheitsbedingt, überhaupt nicht
       erinnern kann, was am Vortag besprochen wurde, wird nicht zu Hause
       behandelt.
       
       Bevorzugt werden dagegen Menschen, die Angehörige betreuen, sich
       beispielsweise um Kinder und Pflegebedürftige kümmern müssen. Ebenso gut
       geeignet sind Menschen, die Familie, Freund*innen oder
       Mitbewohner*innen haben, die bei der Behandlung unterstützen können.
       Ohne das Einverständnis aller anderen Menschen, die in der Wohnung leben,
       geht es ohnehin nicht. Letztendlich werde aber immer „nach Dringlichkeit“
       entschieden, sagt Laumann. Heißt: Vorrang hat, wem es besonders schlecht
       geht.
       
       Nach der Teamsitzung in der Klinik steht der erste von drei Hausbesuchen an
       diesem Tag für Ärztin Julia Göbel-Erkan an. Sie fährt fast alle Strecken
       mit einem der zwei E-Bikes, die extra von der Klinik angeschafft wurden.
       Der erste Stopp auf ihrer Tour ist bei Olaf Klaasen. Nach zehn Minuten
       Fahrt hält Göbel-Erkan vor einem Mehrfamilienhaus mit kleinem Garten.
       Klaasen öffnet im blauen Bademantel die Wohnungstür. Er begrüßt die Ärztin
       mit einem Faustcheck, bittet schüchtern in sein Wohnzimmer.
       
       Das Elternhaus von Klaasen war kein Ort der Geborgenheit, die Beziehung zu
       seinen Eltern wenig liebevoll und von Gewalt geprägt. Und er ist nicht der
       Erste in seiner Familie mit einer psychotischen Erkrankung. Bevor Klaasen
       mit Mitte 30 selbst schwer erkrankte, arbeitete er als Mathematiker und
       verdiente gutes Geld. Seine Wohnung ist mit vier Zimmern für eine Person
       ziemlich großzügig. An der Wohnzimmertür hängt ein handgeschriebener
       Zettel, darauf steht „Tägliche Aufgaben“: Kaffee trinken gehen, Puzzle
       spielen, eine Kanne Tee am Tag trinken. Auf dem Wohnzimmertisch stapeln
       sich Medikamente, fein säuberlich beschriftet, in Briefbögen mit Namen und
       Anzahl der darin liegenden Kapseln.
       
       Insgesamt sechs Wochen ging in Klaasens Wohnzimmer eine halbe
       Fußballmannschaft ein und aus. Sein „Helferstab“, wie er das Team aus der
       Klinik liebevoll nennt. Vor den Besuchen in seiner Wohnung war Klaasen
       mehrfach stationär in Behandlung. Abschnitte seines Lebens, an die er sich
       ungern erinnert: „Dort war ich die ganze Zeit nur mit kranken Leuten
       zusammen.“ Das habe es nicht leichter gemacht. Auch die Option, in ein
       betreutes Wohnheim zu ziehen, kommt für ihn nicht in Frage. Durch seine
       Krankheit ist Klaasen antriebslos und hat Schwierigkeiten, Freundschaften
       und Kontakte zu knüpfen. Lange Gespräche machen ihn nervös.
       
       Und trotzdem ist Klaasen nicht sozial isoliert. In der Nachbarschaft grüße
       man ihn freundlich, und in seinem Stammcafé bekomme er regelmäßig einen
       Kaffee spendiert, erzählt Klaasen. Einmal in der Woche nimmt er an einer
       Spielrunde im nahegelegenen psychosozialen Zentrum teil. „Wenn man Herrn
       Klaasen nur in der Klinik sieht, dann sieht man die ganze Stärke nicht, die
       er hier in seinem Umfeld bekommt“, sagt Ärztin Göbel-Erkan.
       
       Der Ortswechsel und die Behandlung im privaten Umfeld stellen das
       Verhältnis zwischen Patient*in und Mediziner*in auf den Kopf, so die
       Ärztin. Im Gegensatz zu den festen Abläufen und Regeln in einer Klinik
       bestimmt Klaasen, auf welchem Stuhl die Ärztin sitzt und ob er überhaupt
       die Wohnungstür öffnen will.
       
       Vor verschlossener Tür stand sie bei ihm jedenfalls nie. Heute hat Klaasen
       vorerst zum letzten Mal Besuch aus der Klinik. Seine Elendsgefühle sind
       zuletzt deutlich weniger aufgekommen, die Behandlung hat Wirkung gezeigt.
       Nach einer halben Stunde verabschiedet sich Göbel-Erkan wieder. Es geht
       weiter zur nächsten Patientin. Klaasen hält die Wohnungstür auf: „Wirklich
       schade, dass es schon vorbei ist.“
       
       ## Der bürokratische Aufwand ist groß
       
       Vor dem Start der Patient*innenbesuche sei die Klinikleitung besorgt
       gewesen, wie für die Sicherheit des Teams garantiert werden kann, berichtet
       Göbel-Erkan. Aber die Teammitglieder gaben schnell Entwarnung. Zu Hause
       wirkten die Patient*innen ruhiger und weniger angespannt als in der
       Klinik. Natürlich könne man nie ausschließen, dass etwas passiert. Das
       Risiko gebe es aber genauso bei einer Behandlung in der Klinik, so
       Göbel-Erkan.
       
       Die Ärztin zögert kurz, bevor sie auf der Fahrt zur nächsten Patientin dann
       doch von einem Zwischenfall erzählt. Einmal wollte sich ein Patient während
       ihres Besuchs das Leben nehmen. An dem Tag war die Ärztin ausnahmsweise mit
       einer Kollegin vor Ort. Göbel-Erkan hielt Kontakt zu dem Mann, ihre
       Kollegin rief den Rettungsdienst.
       
       Abschrecken lassen sich die Ärzt*innen Julia Göbel-Erkan und Dominik
       Laumann von solchen Vorfällen nicht. Zwar sei es nach einem halben Jahr
       noch zu früh, um ein Fazit zu ziehen. Doch die ersten Erfahrungen mit der
       Behandlungsform seien hauptsächlich positiv. „Durch den Kontakt im privaten
       Umfeld ist es einfacher, den Menschen kennenzulernen“, sagt Göbel-Erkan.
       Das mache die Behandlung „viel menschlicher“.
       
       Inzwischen hat sich die alternative Behandlungsform in Mülheim
       herumgesprochen, die Warteliste ist konstant voll. Nach dem dritten
       Hausbesuch an diesem Mittwoch endet für Göbel-Erkan der erste Teil ihres
       Arbeitstags. Die weniger aufregende Hälfte beginnt: Formulare ausfüllen,
       Medikamente bestellen, neue Besuche im Team koordinieren.
       
       Der hohe bürokratische Aufwand ist ein Grund, warum die Behandlung sechs
       Jahre nach dem Gesetz immer noch nicht in allen psychiatrischen Kliniken
       angeboten wird. Ärzt*innen kritisieren etwa die Vorschrift, sieben Mal
       die Woche bei den Patient*innen auftauchen zu müssen. Bei manchen sei
       das nach den ersten Wochen schlicht nicht mehr nötig, sagt Oberarzt
       Laumann. Versäumt das Team aber einen einzigen Besuch, bezahlen die
       Krankenkassen die gesamte Behandlung nicht mehr.
       
       Es gibt in der deutschen Psychiatrie schon länger die Forderung, mehr von
       den Bedürfnissen der Patient*innen her zu denken. Doch das notwendige
       Umdenken ist offenbar ein langwieriger Prozess. Bislang ist die Zahl der
       angebotenen Plätze für eine psychiatrische Behandlung zu Hause in
       Deutschland überschaubar. In Mülheim beispielsweise sind es exakt sieben.
       Dem gegenüber stehen mehr als 400 Plätze für einen stationären Aufenthalt
       in der Klinik.
       
       Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie
       können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/1 11 01
       11 oder 08 00/1 11 02 22).
       
       12 May 2024
       
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