# taz.de -- Der Tochter hinterher
       
 (IMG) Bild: Gleich um die Ecke haben sie ein neues Stammlokal gefunden: Wilfried und Doris Weber
       
       Wilfried und Doris Weber, beide 72, sind kürzlich aus Mittelhessen nach
       Berlin gezogen.
       
       Nach Berlin gehen, das machen die jungen Leute, die Studierenden, die
       Kreativen, die Spinner, die für das Leben auf dem Land zu verrückt sind. So
       hört man es oft. Doris und Wilfried Weber sind auch gerade hierher gezogen,
       allerdings sind die beiden 72 Jahre alt und damit eigentlich schon aus dem
       Gröbsten raus.
       
       „Wir haben uns mit 15 kennengelernt, als wir in dieselbe Klasse kamen“,
       erzählt Doris Weber. „Einmal habe ich eine Feier unten in unserem
       Partykeller veranstaltet. Wilfried erschien einfach uneingeladen. Seitdem
       sind wir zusammen.“
       
       In dem großen Haus darüber, dem ihrer Eltern, wohnten die beiden später
       selbst und gründeten eine Familie. Zehn Zimmer, der Speicher, der
       Wintergarten, der Partykeller natürlich und der riesige Garten drumherum:
       jede Menge Platz im kleinen Niederkleen bei Gießen. Doch spätestens, als
       die beiden Töchter ausgezogen waren, spürte das Ehepaar, wie es im Dorf
       nach und nach leerer wurde. „Ich fing an, mich alleine im Haus zu
       fürchten“, sagt Doris Weber. „Ich spürte, dass ich hier nicht einsam alt
       werden will. Dazu die viele Arbeit mit dem Haus und dem Garten, das konnten
       wir kaum allein bewältigen.“
       
       Also verkauften die Webers ihr Haus und tauschten es gegen eine Wohnung in
       Friedrichshain um, drei Zimmer in einem schicken Neubau. „Wir sind für mehr
       Familienleben nach Berlin gezogen“, erklärt Wilfried Weber. „Eine Tochter
       lebt hier, wir können hier viel mehr Zeit mit unseren beiden Enkelkindern
       verbringen. Auch Doris’ Bruder lebt schon lange hier.“ Durch die vielen
       Besuche war die große Stadt längst keine unheimliche Unbekannte mehr.
       
       Doch sich von so vielen Dingen trennen, den Heimatort verlassen, noch
       einmal neu anfangen: das muss doch furchtbar schwer gefallen sein, wird
       Doris Weber oft gefragt. „Die Trennung vom Haus eigentlich nicht“,
       antwortet sie. „Es ist eher eine große Erleichterung, dass wir die viele
       Arbeit nicht mehr haben. Dass wir uns rechtzeitig zum Umzug entschieden
       haben, bevor wir zu müde werden.“
       
       Aus dem alten Haus konnten die beiden kaum etwas mit in die neue Wohnung
       nehmen. Eine Lampe, eine kleine Modelleisenbahn, die bunte Schlangenfigur,
       die Briefmarkensammlung, der Karton mit den ganzen Dias, die man mal wieder
       durchschauen müsste. „Die alten Möbel waren viel zu groß für die Zimmer
       hier, wir haben viel verschenkt und uns neu eingerichtet.“ Aber an
       Gegenständen würden die beiden ohnehin nicht so besonders hängen. An den
       Menschen aus der Heimat schon eher.
       
       „Sich von den Freunden und Bekannten zu verabschieden, in meiner
       Gymnastikgruppe und Wilfrieds Handballverein, das war schwer“, sagt Doris
       Weber. In Berlin müssen sie neben dem Familienleben erst einmal wieder
       Kontakte knüpfen. Dafür aber haben sie gleich ums Eck ein neues Stammlokal
       für sich entdeckt und erkunden bei Ausflügen die schönen Ecken der Stadt
       und ihres Brandenburger Umlands. Und wenn der Berliner Winter mal aufs
       Gemüt drückt, besuchen sie einfach ihre andere Tochter. Die wohnt in
       Australien. Die Flüge sind schon gebucht.
       
       Philipp Brandstädter
       
       18 May 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Philipp Brandstädter
       
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