# taz.de -- Medizinethiker über Hungerstreiks: „Konkurrierende Deutungen“
       
       > Historisch traten vor allem Häftlinge in Hungerstreiks, nun eignen sich
       > auch Klimaaktivist:innen sie an. Über die Geschichte der
       > Protestform.
       
 (IMG) Bild: Mahatma Gandhi (links) während seines Hungerstreiks im Mai 1933
       
       taz: Herr Buschmann, aktuell befinden sich in Berlin vier Klimaaktivisten
       im Hungerstreik, auch 2021 veranstalteten Aktivist:innen der Letzten
       Generation schon einen solchen. Wie ist dieses politische Instrument
       entstanden? 
       
       Maximilian Buschmann: Das Konzept des Hungerstreiks ist aus historischer
       Sicht relativ neu. Erstmals wurde der Begriff im späten 19. Jahrhundert
       genutzt, um die politische Praxis der Nahrungsverweigerung als Mittel des
       Widerstands zu bezeichnen. Doch schon vorher verweigerten Gefangene,
       versklavte Menschen und andere, die unter autokratischen Herrschaftsformen
       litten, Nahrung, um zu protestieren. Als die Praxis als solche benannt
       wurde, wurde sie von einem eher alltäglichen Widerstand zu einem
       international diskutierten politischen Symbol. In der Folge fanden
       Hungerstreiks unter anderem im russischen Zarenreich, im britischen Empire,
       den USA und in der Weimarer Republik statt.
       
       Hat sich die Praxis des Hungerstreiks gewandelt? 
       
       Über weite Phasen haben nur Menschen, die sich in Gefangenschaft befanden,
       das Mittel genutzt. Dabei handelt es sich nicht nur um Haftanstalten,
       sondern auch um andere Institutionen, wie Psychiatrien. Vor allem ging es
       also um Kontexte, in denen die Möglichkeiten zur eigenen Entfaltung sehr
       stark begrenzt sind. Der Ort und Zeitpunkt sowie die Art und Weise der
       Ernährung sind in Gefangenschaft fremdbestimmt. Da der Körper in so
       engmaschige soziale und zeitliche Räume eingezwängt ist, ist der Umgang mit
       Nahrungsmitteln eines der wenigen Mittel des Widerstandes.
       
       Auch die hungerstreikenden Klimaaktivist:innen sehen sich in einer
       akuten Notlage und argumentieren: Der Hungerstreik sei das letzte wirksame
       Mittel, gegen die Klimakrise zu kämpfen. Scheinbar sind sie sogar bereit,
       für ihren Zweck zu sterben.
       
       Genau, mit Hungerstreiks machen Aktivist:innen diese Wahrnehmung von
       individuellen wie gesellschaftlichen Notlagen sozusagen am Körper für die
       Öffentlichkeit deutlich. Dass Menschen im Hungerstreik sterben, ist auch in
       Deutschland schon vorgekommen. Der wahrscheinlich berühmteste im
       Hungerstreik Verstorbene ist Holger Meins, der 1974 im Kontext eines
       Hungerstreiks der RAF verstarb. Auch der Syndikalist Bernhard Lamp verstarb
       1920 nach einem Hungerstreik in einer Haftanstalt.
       
       Seit wann wird der Hungerstreik auch außerhalb von Kontexten der
       Gefangenschaft eingesetzt? 
       
       Als einer der ersten nutzte Mohandas Gandhi die Nahrungsverweigerung als
       politisches Mittel außerhalb von Gefangenschaft. Die Protestform wurde dann
       weltweit rezipiert. Der Unterschied: Aktivist:innen können außerhalb
       von Haftanstalten leichter Kontakt zu solidarischen Menschen und
       Medienvertreter:innen herstellen. In Haft ist das teilweise
       überhaupt nicht möglich. Bildmaterial kann aus totalen Institutionen kaum
       nach außen dringen.
       
       Welche Rolle spielt die mediale Berichterstattung? 
       
       Mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen ist eines der wesentlichen Ziele von
       Hungerstreiks. So können Gruppen ihre Anliegen öffentlich artikulieren und
       ihre politische Identität sichtbar machen. Der Zusammenhang zwischen
       politischem Aktivismus und den erreichten Kommunikationskanälen ist
       zentral.
       
       Wenn nun Klimaaktivisten in Hungerstreiks treten, bekommen dann Gefangene,
       die dasselbe tun, weniger Aufmerksamkeit? 
       
       Das kann passieren. Es kommt natürlich immer darauf an, wer in
       Hungerstreiks tritt. Es gibt Gefangene, die durch ihre persönliche
       Vorgeschichte große mediale Aufmerksamkeit erfahren, etwa wenn ihre Haft
       schon selbst ein politisches Ereignis ist.
       
       Sind Hungerstreiks ein wirksames Instrument, um politische Entscheidungen
       zu beeinflussen? 
       
       Das ist schwer zu sagen. Es spielen viele individuelle Faktoren eine Rolle
       für die Wirksamkeit: die körperliche Reaktion auf die Nahrungsverweigerung,
       die Reaktion solidarischer Menschen, die Reaktion der Medien. Wenn große
       weltpolitische Ereignisse den Hungerstreik überstrahlen, wird er aus den
       Schlagzeilen heraus gedrängt. Zum Beispiel trat eine US-amerikanische
       Anarchistin 1914 in einen Hungerstreik, der gänzlich unterging, als der 1.
       Weltkrieg begann. Solche Faktoren vorher einzukalkulieren ist unmöglich.
       
       Wird das Mittel öfter verwendet als früher? 
       
       So etwas mit Zahlen zu belegen, ist gar nicht so einfach. Es gab
       rückblickend aber immer wieder Konjunkturen der Wahrnehmung von
       Hungerstreiks, in denen diese Praxis zumindest besondere Aufmerksamkeit
       erfuhr. Ob sie dann wirklich häufiger durchgeführt wurden, ist eine Frage
       der Quellen. Manchmal wird einfach mehr über Hungerstreiks berichtet.
       
       Wirkt sich eine solche Konjunktur der Wahrnehmung eher positiv oder negativ
       auf den Erfolg aus? 
       
       Ich würde sagen, dass Hungerstreiks eigentlich immer konkurrierende
       Deutungen provozieren, weil sie eben unmittelbar starke körperliche
       Konsequenzen für die Streikenden haben können. Abhängig ist die Wahrnehmung
       auch davon, ob es den Streikenden gelingt, ihren Protest in besondere
       kulturelle oder politische Sinnzusammenhänge einzuordnen.
       
       Warum ist das wichtig? 
       
       Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Als 1917 einige amerikanische
       Feministinnen, die sich in Haft befanden, in den Hungerstreik traten, ging
       es nicht nur um die Haftbedingungen dieser Frauen. Ihnen gelang es, den
       Streik in einen größeren politischen Kontext einzuordnen. Sie beklagten,
       dass Frauen in den USA zu diesem Zeitpunkt kein Wahlrecht besaßen. Zugleich
       traten die USA 1917 in den Ersten Weltkrieg ein und argumentierten, als
       Demokratie gegen die Autokratien der Welt anzutreten. So konnte der
       Hungerstreik mit einem größeren Narrativ ausgestattet werden.
       
       6 Jun 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Joscha Frahm
       
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