# taz.de -- Die Wahrheit: Mensch und Vater
       
       > Schurken, die die Welt beherrschen wollen – heute in der ultimativen
       > Wahrheit-Serie: Hendrik „Handzahm“ Wüst.
       
 (IMG) Bild: Liberal duftender Sozialpolitiker: Wüst voll beschwingt
       
       Katharina tätschelt ihren Gatten und reicht ihm zum Trost ein Plätzchen.
       Hendrik, groß und hoch auf zwei Beinen stehend, schnappt das Leckerli mit
       der Hand und schenkt es dem höchsteigenen Töchterchen im Kinderwagen.
       Gerade hat er als Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens einen runden Ball
       unfallfrei auf eine steile Torwand geschossen – nicht einfach, wenn der
       Kopf weit vom Fuß entfernt ist und die Torwand nicht breit genug.
       
       Es ist das größte Familienfest des größten Bundeslandes, das im Bochumer
       Westpark stattfindet, und der ebenfalls nicht gerade kleine Hendrik Josef
       Wüst ist sorgsam bemüht, seinen Nachnamen Lügen zu strafen. Mit Frau neben
       sich und Philippa im Transportgerät schlendert er vorbei an Bastelständen
       und aufgereckten Kameralinsen, zwischen Hüpfburgen und Trampolinen stehen
       Eltern funktionsgerecht als potenzielle Wähler parat.
       
       2021 wurde Wüst mit 98,3 Prozent zum Landesvorsitzenden der SED gewählt,
       der CDU natürlich, und 2022 mit 99,1 Prozent zum Spitzenkandidaten für die
       Landtagswahl geseift. Die Träne dabei: Es sind hauseigene Stimmen, alles
       selbst gemacht – aber draußen möchte Wüst auch mindestens 100 Prozent
       haben!
       
       Deshalb spricht der Christdemokrat mit den normalen Besuchern wie ein
       normaler Mensch, der er ja auch ist, nur dass er mit seinen genau
       abgezirkelten 1,91 m ü. d. M. größer und länger ist. Wie wohl nicht lang
       genug, um für die zerbröckelnde Autobahnbrücke bei Rahmede einzuspringen!
       Die geeignet wäre, den Verkehr zwischen Frankfurt und Dortmund
       zusammenzuschweißen, wenn, ja, wenn der von 2017 bis 2022 amtierende
       Verkehrsminister Wüst ihre Reparatur nicht verschusselt hätte.
       
       ## Bürgernerven vor dem Einsturz
       
       Mit Lärm, Dreck, Feinstaub und Vibrationen bringt der mitten durch
       Lüdenscheids Herz brodelnde Verkehr die Bürgernerven zum Einsturz. Doch in
       Bochum belästigt Wüst niemanden mit Lärm, Dreck, Feinstaub und Vibrationen.
       „Was willst du denn mal werden?“, redet er einen Dreikäsehoch an, der
       antwortet: „Chirurgin für Xenotransplantationen!“
       
       „Super“, pariert Wüst und nimmt das nächste Kind ins Visier. Alle sind
       sauber gewaschen, wie ihre Eltern. Dass in manchen Städten in NRW zwei von
       drei Familien Sozialleistungen fressen wie die Tiere und sich in
       Papiertüten kleiden müssen, wirft ihm hier niemand vor. Und wenn, bliebe er
       handzahm und im Gesicht nett.
       
       Mancher, der Hendrik Wüst kennt, kennt ihn da nicht wieder. Erkennt den
       Rüpel und Rabauken nicht mehr im neuen, anders tapezierten Hendrik Wüst.
       Sieht den alten Hendrik Wüst nicht mehr, den Schrecken des Stadtrats seiner
       Geburtsstadt Rhede im Münsterland, der im Kreisrat von Borken Furcht und
       Zähneklappern verbreitete unter den Honoratioren der örtlichen CDU, in die
       er mit 17 Lenzen platzte, Schauder und Angstschreie auslöste wie zuvor
       nasse Hosen unter seinen Altersgenossen, die er in seinem mit 15 Lenzen
       gegründeten Rheder Stadtverband der Jungen Union hineinzwängte.
       
       Ab 2005 lief Wüst als jüngster Düsseldorfer Abgeordneter regelmäßig heiß,
       wenn der politische Gegner Widerworte auswarf. War des damaligen
       Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers Mann fürs grob Geschnitzte und roh
       Gehauene, machte Suppenwürfel aus dem Feind! So war er bis beinah jetzt –
       bis ihm die Geburt eines Töchterleins dazwischenfunkte und sich der auf
       glühenden Krawall spezialisierte Konservative in einen liberal duftenden
       Sozialpolitiker verwandelte.
       
       Dass in seinem Bundesland mehr Kitaplätze und Wohnungen fehlen als die
       Mathematik in der Grundschule Zahlen hat, dass manche Landstriche durch
       zerkrümelnde Straßen von der empirischen Wirklichkeit abgeschnitten sind,
       dass die Schwer- und Chemieindustrie unter ihren Energiekosten zu ersticken
       droht gleich einem fett gewordenen Walfisch unter dem eigenen Gewicht – ein
       besorgter Hendrik Wüst geizt nicht mit Worten, ist vom Rand in die bequem
       ausgelegte Mitte gerutscht und schiebt den Kinderwagen durch die Menge.
       
       ## Über den schwarzen Schatten gesprungen
       
       2021 sprang er dann sogar über seinen schwarzen Schatten und koalierte mit
       den großen Kindern des Politbetriebs, den Grünen: weiche Endstation eines
       langen Wegs, den der 1975 Geschlüpfte nach Abitur und Jura-Studium als
       Unternehmensberater und Lobbyist abgaloppiert hatte.Vergessen die Ahrflut
       von 2021, die er als Verkehrsminister trockenen Fußes überstand, verpufft
       die Erinnerung an 2010, als er Journalisten unter dem Tisch Einzelgespräche
       mit Ministerpräsident Rüttgers anbot, verkohlt die Aufregung um Lützerath,
       das sowieso weg ist: Nein, der Blick geht dorthin, wo die Nase hinzeigt,
       nach vorn!
       
       Fast allen Konkurrenten hat er die Luft abgesägt. 2007 hatte er mit Markus
       Söder und diversen Konsorten das Positionspapier „Moderner, bürgerlich
       riechender Konservatismus“ komponiert und seither fast alle Mitautoren
       abgedrängt. Nur Söder und dieser Merz da draußen leben noch. Für sie wird
       dann der Raufbold, das Raubein noch mal hervorgekramt, um 2025
       Kanzlerkandidat zu werden!
       
       26 Jun 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Köhler
       
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