# taz.de -- Reisen ist überbewertet: Der Selbstbetrug des Reisenden
       
       > Reisen erweitert den Horizont und macht uns zu besseren Menschen, heißt
       > es. Das Gegenteil ist wahr. Ein Plädoyer fürs Zuhausebleiben.
       
 (IMG) Bild: Venedig, 2019
       
       Was, würden Sie sagen, ist die inhaltsleerste Aussage, die Menschen gern
       von sich geben? Aus meiner Sicht ist es „ich reise gern“. Man erfährt
       dadurch wirklich nichts über jemanden, weil schließlich fast jeder gern
       reist, und trotzdem sagen Leute das so, weil sie aus irgendeinem Grund
       sowohl stolz darauf sind, auf Reisen gewesen zu sein, als auch auf den
       Umstand, dass sie sich auf ihre nächste Reise freuen.
       
       Es gibt ein paar wenige Reise-Gegner, und die beziehen klar Position. Der
       britische Schriftsteller und Journalist G.K. Chesterton schrieb etwa, dass
       Reisen den Verstand verenge. Für den Philosophen Ralph Waldo Emerson war
       Reisen das „Paradies des Narren“. Sokrates und [1][Immanuel Kant] – die
       zwei größten Philosophen aller Zeiten – stimmten mit den Füßen ab, indem
       sie ihre Heimatstädte Athen und Königsberg kaum verließen. Aber der größte
       Reise-Hasser aller Zeiten war der portugiesische Autor [2][Fernando
       Pessoa], dessen wundervolles Werk „Das Buch der Unruhe“ nur so trieft vor
       Empörung:
       
       Ich verabscheue neue Lebensweisen und unbekannte Orte (…) Der Gedanke ans
       Reisen bereitet mir Übelkeit (…) Reisen ist was für Gefühllose (…) Nur ein
       extrem ärmliches Vorstellungsvermögen rechtfertigt es, sich bewegen zu
       müssen, um etwas zu spüren. 
       
       Wenn Sie nun den Drang verspüren, solche Positionen als nonkonformistisches
       Gehabe abzutun, versuchen Sie mal nicht an sich selbst und ihre eigenen
       Reisen zu denken, sondern an die Reisen der anderen. Zu Hause und auch im
       Ausland neigen wir dazu, „touristische“ Aktivitäten zu meiden. „Tourismus“
       nennen wir das Reisen, wenn die anderen es tun. Und obwohl die meisten
       Leute sehr gern von ihren Reisen erzählen, hören nur sehr wenige von uns
       ihnen wirklich gern dabei zu. Denn solches Gerede ähnelt in gewisser Weise
       akademischen Texten und nacherzählten Träumen: Es ist eine
       Kommunikationsform, die mehr von den Bedürfnissen der Erzählerin getrieben
       ist als von denen des Publikums.
       
       Ein gängiges Argument für das Reisen lautet, dass es uns in eine Art
       erleuchteten Zustand hebt, dass es uns bildet und Dinge über die Welt lehrt
       und uns mit ihren Bewohnern verbindet. Selbst der britische Gelehrte Samuel
       Johnson, ein Reiseskeptiker, der mal sagte: „Was ich von meinem Aufenthalt
       in Frankreich gelernt habe, ist, zufriedener mit meinem eigenen Land zu
       sein“, räumte ein, dass Reisen durchaus einen gewissen Wert habe. Seinem
       geliebten Freund, dem schottischen Schriftsteller James Boswell, empfahl
       Johnson eine Reise nach China, zum Wohl von dessen Kindern: „Es würde ein
       Glanz auf sie geworfen werden (…) Man wird sie für alle Zeit als die Kinder
       eines Mannes betrachten, der ausgezogen ist, um die Große Mauer Chinas zu
       sehen.“
       
       Reisen wird also als Errungenschaft verkauft: interessante Orte sehen,
       interessante Erfahrungen machen, eine interessante Person werden. Aber ist
       das wirklich so?
       
       Pessoa, Emerson und Chesterton waren überzeugt, dass das Reisen uns nicht
       der Menschheit näherbringt, sondern uns eigentlich von ihr trennt. Reisen
       macht uns zu schlechten Menschen, während wir uns vorgaukeln, wir würden
       dadurch bessere. Den Selbstbetrug des Reisenden könnte man das nennen.
       
       Aber schauen wir uns die Sache mal genauer an. Was meinen wir mit „reisen“
       eigentlich genau? Sokrates reiste ins Ausland, als er eingezogen wurde, um
       im Peloponnesischen Krieg zu kämpfen – aber ein Reisender war er dadurch
       nicht. Emerson macht außerdem deutlich, dass er niemanden für eine Reise
       kritisiert, wenn „Notwendigkeiten“ oder „Verpflichtungen“ danach verlangen,
       und er hat auch nichts dagegen einzuwenden, „zum Zweck der Künste, des
       Studiums und der Wohltätigkeit“ große Entfernungen zurückzulegen.
       
       ## Temporäre Freizeit
       
       Ein Zeichen dafür, dass man einen guten Grund hat, irgendwo zu sein, ist,
       dass man nichts zu beweisen hat. Folglich verspürt man auch keinen Drang,
       Souvenirs zu kaufen, Fotos zu machen und Geschichten zu sammeln, mit denen
       sich das Erlebte später belegen lässt. Definieren wir „Tourismus“ also als
       die Art des Reisens, die auf die Entdeckung des Interessanten aus ist – die
       aber, wenn Emerson und die anderen recht haben, ihr Ziel verfehlt.
       
       „Ein Tourist ist eine Person in temporärer Freizeit, die freiwillig einen
       Ort außerhalb der Heimat aufsucht, um Veränderung zu erleben.“ Diese
       Definition stammt aus [3][„Hosts and Guests“], einem wissenschaftlichen
       Klassiker zur Anthropologie des Tourismus. Der hintere Teil des Satzes ist
       dabei entscheidend: Touristisches Reisen dient der Veränderung. Aber wer
       oder was genau wird eigentlich verändert?
       
       ## Tourist*innen schauen, Gastgebende schauen zurück
       
       Im letzten Kapitel desselben Buches findet sich eine ziemlich
       aufschlussreiche Beobachtung: „Es ist weniger wahrscheinlich, dass
       Touristen etwas von ihren Gastgebern mitnehmen als andersherum, sie lösen
       somit eine Kette von Veränderungen in der Gastgebergesellschaft aus.“ Das
       bedeutet: Wir ziehen los, um mal was anderes zu erleben, aber sorgen damit
       vor allem dafür, dass sich für andere etwas verändert.
       
       Als ich vor zehn Jahren in Abu Dhabi war, buchte ich eine geführte Tour in
       einem Krankenhaus für Falken. Ich habe mich mit einem Falken auf dem Arm
       fotografieren lassen. Dabei interessiere ich mich überhaupt nicht für
       Falknerei oder Falken an sich, und sowieso habe ich eine generelle
       Abneigung gegen Begegnungen mit nichtmenschlichen Lebewesen. Aber das
       Falken-Krankenhaus war eine Antwort auf die Frage: „Was macht man in Abu
       Dhabi?“ Also ging ich hin. Vermutlich war es schon immer so und wird immer
       so bleiben: Alles am Falken-Krankenhaus, seine Gestaltung, sein Leitbild,
       wird geformt durch die Besuche von Leuten wie mir – die unveränderten
       Veränderer, die Touris. (Ich erinnere mich, dass an der Wand im Foyer
       lauter Auszeichnungen und Tourismus-Preise hingen. In einer Tierklinik,
       wohlgemerkt).
       
       Nun kann man fragen: Warum sollte das alles schlecht sein? Warum sollte ein
       Ort darunter leiden, dass er von Menschen geformt wird, die freiwillig dort
       hinreisen, um ihrem Alltag zu entfliehen und etwas anderes zu erleben? Die
       Antwort lautet, dass jene Menschen in der Regel nicht nur keine Ahnung
       haben, was sie da eigentlich tun – sie sind auch nicht gewillt, es zu
       lernen.
       
       ## Ein Programm abhaken
       
       Nehmen wir mich. Es wäre eine Sache, wenn jemand eine so große Leidenschaft
       für die Falknerei hat, dass er bereit ist, deshalb nach Abu Dhabi zu
       fliegen. Oder, wenn man mit der Absicht und in der Hoffnung verreist, dem
       eigenen Leben eine neue Richtung zu geben. Beides traf auf mich nicht zu.
       Als ich die Klinik betrat, wusste ich, dass mein Leben nach Abu Dhabi
       genauso viel Falknerei beinhalten würde wie mein Leben vor Abu Dhabi –
       nämlich null. Wenn man sich etwas ansieht, das man weder wertschätzt noch
       vor hat, es wertschätzen zu lernen, tut man doch eigentlich nicht viel
       mehr, als den eigenen Körper von A nach B zu bewegen.
       
       Tourismus ist im Wesentlichen Fortbewegung. Das zeigt sich auch in der
       Sprache, im Englischen wird das besonders deutlich. „I went to France.“
       Okay, aber was hast du da gemacht? „I went to the Louvre.“ Okay, aber was
       hast du da gemacht? „I went to see the 'Mona Lisa’.“ Viele Leute schauen
       sich die Mona Lisa übrigens nur fünfzehn Sekunden lang an. Fortbewegung
       eben.
       
       Touristen zeichnet außerdem aus, dass sie an einem Ort einerseits das tun
       wollen, was sie tun sollen, und zugleich auf jeden Fall vermeiden wollen,
       das zu tun, was vorgegeben ist. Genau deshalb habe ich bei meiner ersten
       Reise nach Paris nicht die Mona Lisa besucht, ich bin nicht mal in den
       Louvre gegangen. Aber natürlich war ich trotzdem in Bewegung. Ich bin von
       einem Ende der Stadt zum anderen gelaufen, wieder und wieder, in einer
       geraden Linie. Hätte man meine zurückgelegten Wege auf einer Karte
       verzeichnet, hätten sie sich zu einem riesigen Stern verbunden.
       
       In den vielen Städten, in denen ich tatsächlich gelebt und gearbeitet habe,
       hätte ich das niemals getan. Niemals wäre ich dort tagelang einfach so
       durch die Gegend gelaufen. Aber auf Reisen werfen wir unsere Standards über
       Bord und ersetzen sie durch etwas, das wir für wertvoll genutzte Zeit
       halten. Wir entsagen für die Zeit der Reise auch unserem Geschmack, weil
       wir uns nicht dadurch einschränken wollen, welches Essen wir gern essen,
       welche Kunst wir mögen oder womit wir am liebsten unsere Freizeit
       verbringen. Es geht beim Reisen ja schließlich darum, aus dem alltäglichen
       Trott auszubrechen. Aber was wird jemand mit Gemälden anfangen, der
       grundsätzlich ungern in Museen geht, aber es im Urlaub dann doch tut,
       einfach um der Veränderung willen? Da kann man sich genauso gut in einen
       Raum voller Falken setzen.
       
       Tourismus hat einen selbstzerstörerischen Charakter. Um diese These besser
       zu verstehen, hilft ein Blick auf zwei Beispiele aus dem Essay „The Loss of
       Creature“ des Schriftstellers Walker Percy.
       
       Beispiel 1: Ein Tourist erreicht den Grand Canyon. Schon vor seiner Reise
       entstand ein Bild des Canyons in seiner Vorstellung. Der Tourist ist
       erfreut, wenn der Canyon den Fotos und Postkartenmotiven ähnelt, die er
       vorab gesehen hat; vielleicht beschreibt er seinen Ausblick sogar als
       „genauso schön wie eine Postkarte!“. Sind die Lichtverhältnisse jedoch
       anders und entsprechen die Farben und Schattierungen zum Zeitpunkt seines
       Besuchs nicht seiner Erwartung, fühlt er sich betrogen: Er ist an einem
       schlechten Tag angereist. Der Tourist ist außerstande, den Canyon so zu
       sehen, wie er in der Realität vor ihm liegt, und zugleich ist er dazu
       gezwungen, ständig zu beurteilen, ob die Realität mit den Postkartenbildern
       seiner Vorstellung übereinstimmt. In dieser Situation kann er „einfach
       gelangweilt sein; oder er ist sich der Schwierigkeit bewusst, dass ihm
       dieses große Ding, das da vor seinen Füßen liegt, schlicht entgeht“.
       
       ## Unzufrieden mit Sehenswürdigkeiten
       
       Beispiel 2: Ein Paar aus Iowa fährt durch Mexiko. Die beiden haben Spaß auf
       ihrer Reise, aber sind ein bisschen unzufrieden mit den offiziellen,
       gängigen Sehenswürdigkeiten. Sie verirren sich, fahren stundenlang auf
       einer steinigen Straße durch die Berge, bis sie irgendwann „in einem
       winzigen Tal, das nicht einmal auf der Karte verzeichnet ist“, ein Dorf
       erreichen, wo gerade ein religiöses Fest stattfindet. Als sie den
       Dorfbewohnern beim Tanzen zusehen, haben die Touristen endlich „ein
       authentisches Erlebnis, charmant, kurios, pittoresk, unberührt“. Trotzdem
       scheint noch immer etwas zu fehlen. Zu Hause in Iowa schwärmen sie ihrem
       Freund, einem Ethnologen, von dem Erlebnis vor: Du hättest dabeisein
       müssen! Du musst mit uns dorthin zurückfahren! Als der Ethnologe dann
       tatsächlich mit ihnen das mexikanische Dorf besucht, „beobachtet das Paar
       nicht, was dort vor sich geht, sondern den Ethnologen! Ihre größte Hoffnung
       ist, dass ihr Freund den Tanz interessant findet“. Sie brauchen ihn, um
       ihnen „die Authentizität ihrer eigenen Erfahrung zu bescheinigen“.
       
       Der Tourist ist durchaus eine ehrfürchtige Figur. Die Rechtfertigung seiner
       Erfahrungen überlässt er Ethnologen, Postkarten und konventionellen
       Weisheiten darüber, was man an einem Ort tun oder lassen sollte. Diese
       Ehrerbietung, diese „Offenheit für Erfahrungen“, ist aber genau das, was
       den Touristen unfähig werden lässt, wirkliche Erfahrungen zu machen.
       Emerson beichtete: „Ich suche den Vatikan und die Paläste auf. Ich gebe
       vor, von den Sehenswürdigkeiten berauscht zu sein, aber ich bin nicht
       wirklich berauscht.“ Das ist in etwa die Erfahrung jedes Touristen, der
       schon mal vor einem Denkmal, einem Gemälde oder auch einem Falken stand und
       von sich selbst verlangt hat, nun gefälligst was zu fühlen. Emerson und
       Percy helfen uns zu verstehen, warum das eine ziemlich unvernünftige
       Forderung ist. Denn Tourist zu sein bedeutet, dass man bereits entschieden
       hat, dass die eigenen Gefühle nicht zählen. Ob eine Erfahrung wirklich
       authentisch für X ist, das kann man als Kurzzeitbesucherin und nicht-Xler
       gar nicht beurteilen.
       
       Ganz ähnlich verhält es sich auch mit dem touristischen Impuls, die große
       Fülle und Vielfalt der Menschheit ehren zu wollen. Während Percy und
       Emerson sich mit Ästhetik beschäftigen und uns zeigen, wie schwer es für
       Reisende ist, genau die sensorischen Erlebnisse zu finden, nach denen sie
       suchen, interessieren sich Pessoa und Chesterton für die Ethik des Reisens.
       Sie untersuchen, warum Reisende nicht wirklich imstande sind, eine
       Verbindung zu anderen Menschen aufzubauen. Auch dafür ist mein eigenes
       Reiseverhalten ein gutes Beispiel. Während meiner Spaziergänge durch Paris
       starrte ich Leute an, ich musterte ihre Kleidung, ihr Gebaren, wie sie
       miteinander interagierten. Ich war sehr bemüht, das Französische in den
       Franzosen um mich herum zu erkennen. So macht man sich aber keine Freunde.
       
       ## Das Reiseglück des Laufburschen
       
       Der Portugiese Pessoa sagte, er kenne nur einen einzigen „echten Reisenden
       mit Seele“: einen Laufburschen, der fanatisch Broschüren sammelte, Karten
       aus Zeitungen riss und die Fahrpläne von Zügen zu weit entfernten Zielen
       auswendig lernte. Dieser Junge kannte Segelrouten auf der ganzen Welt, aber
       hatte Lissabon noch nie verlassen.
       
       Auch Chesterton war von solchen „ruhenden Reisenden“ angetan. Er schrieb,
       es gebe „etwas Rührendes und sogar Tragisches“ an „dem gedankenlosen
       Touristen, der zu Hause in Hampstead oder Surbiton geblieben wäre,
       Lappländer liebend, Chinesen umarmend und Patagonier an sein Herz drückend,
       wenn er nicht den blinden und selbstmörderischen Drang gehabt hätte,
       loszuziehen und zu sehen, wie all diese Leute aussehen“. Das Problem waren
       nicht die anderen Orte oder der Mann, der sie sehen wollte. Das Problem war
       die entmenschlichende Wirkung des Reisens, die ihn unter Menschen drängte,
       zu denen er ausschließlich eine Beziehung als Zuschauer aufbauen kann.
       
       Chesterton glaubte, dass die Liebe zu dem, was weit weg ist, auf die
       richtige Art und Weise – nämlich aus der Ferne – eine universellere
       Verbindung ermöglicht. Wenn der Mann in Hampstead an die Fremden „abstrakt
       dachte (…) als diejenigen, die arbeiten und ihre Kinder lieben und sterben,
       dann dachte er die grundlegende Wahrheit über sie“. „Die menschliche
       Verbundenheit, die er zu Hause spürt, ist keine Illusion“, schrieb
       Chesterton. „Es ist vielmehr eine innere Realität.“ Das Reisen hingegen
       hindert uns daran, die Gegenwart derer zu spüren, für die wir so große
       Entfernungen zurückgelegt haben, um ihnen nahe zu sein.
       
       Der entscheidendste Fakt über Tourismus ist dieser: Wir wissen schon, wie
       wir sein werden, wenn wir wieder zu Hause sind. Ein Urlaub ist nicht
       dasselbe, wie in ein fremdes Land zu immigrieren, sich an einer Uni
       einzuschreiben oder sich zu verlieben. In diesen Fällen brechen wir mit der
       vorsichtigen Angst eines Menschen auf, der nicht weiß, wer er sein wird,
       wenn er auf der anderen Seite des Tunnels wieder rauskommt. Eine Reisende
       hingegen macht sich mit der Gewissheit auf den Weg, dass sie mit denselben
       grundlegenden Interessen, politischen Überzeugungen und Lebensumständen
       zurückkehren wird. Reisen ist ein Bumerang. Es lässt uns genau dort zurück,
       wo wir angefangen haben.
       
       ## Selbsttäuschung enttarnen ist schwierig
       
       Wenn Sie jetzt denken, das alles träfe auf Sie nicht zu – weil Ihre eigenen
       Reisen magisch und tiefgründig sind, weil sie Ihre Werte stärken, Ihren
       Horizont erweitern, Sie zu einem echten Weltbürger machen und so weiter –
       bedenken Sie, dass dieses Phänomen nicht aus erster Hand beurteilt werden
       kann. Pessoa, Chesterton, Percy und Emerson betonten alle, dass Reisende
       sich stets selbst versichern, sie hätten sich durch die Reise verändert.
       Aber man kann sich nicht auf Selbstprüfung verlassen, wenn man eine
       Täuschung aufdecken will.
       
       Überlegen Sie stattdessen doch mal, ob Sie Freunde haben, die bald in ein
       Sommerabenteuer aufbrechen werden. In welchem Zustand werden Sie sie
       vorfinden, wenn sie zurückkommen? Diese Freunde mögen von ihrer Reise
       sprechen, als wäre sie eine transformative „einmalige“ Erfahrung gewesen.
       Aber werden Sie einen Unterschied in ihrem Verhalten, ihren Überzeugungen,
       ihrem moralischen Kompass feststellen können? Wird es überhaupt irgendeinen
       Unterschied geben?
       
       Reisen macht Spaß, ohne Frage. Deshalb ist es überhaupt nicht
       verwunderlich, dass wir Gefallen daran finden. Rätselhaft ist, warum wir
       der Reise so eine große Bedeutung, eine Aura der Tugendhaftigkeit verleihen
       müssen. Wenn ein Urlaub lediglich das Streben nach unveränderlicher
       Veränderung ist, eine Umarmung des Nichts, warum sollte man dann darauf
       bestehen, dass er etwas bedeutet?
       
       Man muss zu dem Schluss kommen, dass es vielleicht gar nicht so einfach
       ist, nichts zu tun – und das legt eine Lösung des Rätsels nahe. Stellen Sie
       sich mal vor, wie Ihr Leben aussähe, wenn Sie heute erfahren würden, dass
       Sie nie wieder verreisen werden. Wenn nicht gerade eine große Veränderung
       in Ihrem Leben ansteht, ist die Aussicht erschreckend: immer mehr von der
       Gegenwart, vom Alltag, vom Jetzt. Nur noch das hier, jeden Tag, und dann
       sterben.
       
       Das Reisen teilt diese Zeitspanne in einen Teil, der vor der Reise liegt,
       und in einen Teil, der nach der Reise liegt, wodurch die Unausweichlichkeit
       der eigenen Vernichtung verdeckt wird. Und zwar tut es das auf die klügste
       Art und Weise: indem es Ihnen einen Vorgeschmack gibt.
       
       Niemand denkt gerne darüber nach, dass er eines Tages nichts mehr tun und
       niemand mehr sein wird. Wir erlauben uns nur an das Ende zu denken, wenn
       wir es in eine Erzählung darüber verpacken können, wie wir auf dem Weg
       dahin viele aufregende und erbauliche Dinge tun. Wir machen Erfahrungen,
       wir knüpfen Kontakte, wir werden verwandelt. Und wir haben den Krempel, die
       Mitbringsel und die Fotos, die das beweisen.
       
       Sokrates sagte einst, Philosophie sei eine Vorbereitung auf den Tod. Für
       alle anderen gibt es das Reisen.
       
       Dieser Text erschien erstmals am 24. Juni 2023 im [4][New Yorker].
       Übersetzung aus dem Englischen: Lin Hierse.
       
       5 Jul 2024
       
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