# taz.de -- Die Wahrheit: Potzblitz! Das Alphabet ist alle!
       
       > In L. A. tagt seit einigen Wochen der Internationale Buchstabenkongress
       > der Vereinten Nationen. Das vorläufige Ergebnis: Chtsch Vrhltnss.
       
 (IMG) Bild: Schon lange sind die Scrabbler unzufrieden mit den Buchstaben
       
       „Ich beantrage, das Seufzen der Tagungsleitung beim Erteilen des Worts an
       mich zu rügen!“ Das T ist erkennbar verärgert. „Laut UN-Statut haben hier
       alle Rede- und Vetorecht. Wir werden nur zu einer Lösung kommen, wenn die
       Leitung sich streng neutral verhält. Und Sie von der Vokalitenfraktion
       können sich Ihr ironisches ‚Ooooh‘ gerne sparen. Ihr sektiererischer
       Vorschlag, es solle aus Gründen der Gleichstellung genauso viele Vokale wie
       Konsonanten geben, ist sprachwissenschaftlich abwegig. Um es mal auf den
       Punkt zu bringen: Ich spreche hier auch im Namen des P und des F und
       erkläre: Von uns aus braucht es überhaupt keine Vokale! Pfft!“ Heftige
       Unruhe im Saal.
       
       Es ist Tag 13 der „UN Letter Conference“ in L. A., und niemand hat mehr den
       Überblick. Es herrschen chaotische Verhältnisse – oder wie es im
       Tagungsprotokoll nach einem Streik der Vokale heißt: „Chtsch Vrhltnss“.
       
       Das UNSRABBR (United Nations Secretary for the Reduction of Abbreviations)
       hatte die Tagung wegen dringenden Handlungsbedarfs einberufen, aber der
       ursprüngliche Anlass scheint inzwischen unter Kleinscharmützeln und
       Eifersüchteleien begraben. Diverse Stakeholder hatten zuvor Alarm
       geschlagen, weil die Kombinationen auszugehen drohen. Man müsse
       nachhaltiger mit Abkürzungen umgehen.
       
       Dem deutschen Bundeswahlleiter zum Beispiel bereitet die Vielzahl der
       Parteien Sorgen, und mehr noch die Verzerrung der Wahlergebnisse durch
       ausgeschriebene Parteinamen wie „Familienpartei“ und „Tierschutzpartei“.
       Und je mehr Parteien an einer Koalition beteiligt sind, desto mehr und
       abstrusere Ministerien gibt es. So fordert Die Linke ein Bundesministerium
       für die Verteilung unangemessener Ausbeutungsgewinne, das BSW hingegen
       eines für das Verfolgen unangenehmer Argumente. Beide beanspruchen das
       Kürzel BMVUA.
       
       ## Abkürzungen für Geheimdienste
       
       Immer mehr Staaten brauchen auch Abkürzungen für ihre Geheimdienste (CIA,
       BND, KGB, TKKG). Weil aber Russland schon im Vorfeld klarstellte, dass es
       wegen des historischen Erbes „UdSSR“ und „KPdSU“ pro Abkürzungen ist und
       gegen alles, was mit „nachhaltig“ zu tun hat, einigte man sich auf ein
       neues Ziel: das ausgeschöpfte Alphabet zu erweitern.
       
       Daraufhin meldeten sich auch der Scrabble-Weltverband und die Liga der
       Kreuzworträtselfreunde an, die seit Jahren über die Langeweile des
       26er-Systems klagen. Was einen sofortiger Protest des ß und der Umlaute zur
       Folge hatte: „Was heißt hier 26? Wir sind 30!“ Heftiger Applaus der
       türkischen und der finnischen Delegation.
       
       Und auch die LGBTQ+-Gemeinde ist präsent: „Wir haben inzwischen jeden
       Buchstaben genutzt, aber es fühlen sich immer noch 15–20 Gruppen
       ausgegrenzt. Und das + ist nichts als ein kränkendes/n/m ‚Ihr seid
       mitgemeint‘! Wir brauchen also dringend mehr Buchstaben – auch wenn die
       rechte Hetzpresse schon jetzt über ‚das längste Kürzel der Welt‘ spottet.“
       
       Inzwischen geht die Konferenz in die vierte Woche: Endlich geht es um
       Lösungen. Wie könnte ein Betabet aussehen? Soll man chinesische
       Schriftzeichen dazunehmen? Auch dank chinesischer Lobbyarbeit zeichnet sich
       eine breite Mehrheit dafür ab – bis die BRD-Delegation den Chinesen
       erklärt, dass sie gerade Opfer einer kulturellen Aneignung zu werden
       drohen. Am Ende legt Deutschland im Namen Chinas – und gegen dessen
       heftigen Protest – ein Veto ein.
       
       Die Türkei schlägt Umlaut-Pünktchen auf jedem Konsonanten vor, was aber an
       der simplen Frage eines namibischen Delegierten scheitert, wie man das dann
       ausspreche. Der Vertreter der Chemiebranche bringt farbige Buchstaben ins
       Spiel, was aber außer den Produzenten von Farbpatronen niemand gut findet.
       Und dann der vermeintliche Durchbruch: Die australisch-ozeanischen
       Delegationen rechnen vor, dass eine Kombination aus „spiegelverkehrt“ und
       „auf dem Kopf“ die Möglichkeiten auf einen Schlag vervierfachen würde.
       
       ## Sekunden vor dem Hammer
       
       Geistesgegenwärtig setzt die Tagungsleitung eine sofortige Abstimmung an.
       Aber Sekunden bevor der Hammer fällt und die „einstimmige Annahme“
       verkündet wird, kehrt das O von der Toilette zurück und schmettert ein
       „Vetooooo!“ durch den Saal. „Ich lasse mich weder spiegeln noch umdrehen!
       Da könnt ihr euch auf den Kopf stellen!“
       
       Der Saal stöhnt entnervt auf. Das S und das T, ein unzertrennliches,
       dauerturtelndes Paar, verkünden die gemeinsame Abreise. Auch die kleinen
       Plastikbuchstaben aus Schottland verabschieden sich: „Wir haben jetzt jeden
       hier angeschnorrt. Nun reisen wir genauso preisgünstig zurück, wie wir
       hergekommen sind: Wir klettern einfach in eine Letterbox.“
       
       Es werden auch immer mehr Einwände laut: „Warum ein jahrtausendealtes
       System verändern? Und wir können kein unendlich großes Betabet haben!“,
       worauf das Pi spontan entgegnet: „Wieso nicht?“ Dafür bekommt es 3,14159
       Likes.
       
       Katar weist darauf hin, dass die Tastaturen riesig würden und nicht mehr in
       das 55-Zentimeter-Kabinengepäck passten. Dies wischt Spanien mit den
       Versprechen vom Tisch, gigantische Klapptastaturen zu entwickeln und sie in
       Villariba reinigen zu lassen.
       
       Und dann gelingt den Delegierten völlig unerwartet doch noch eine
       überzeugende Lösung: Vielecke! Die stärkste aktuell vorhandene KI schafft
       maximal ein 157-Eck, ohne dass es wie ein Kreis aussieht. Und die Kinder
       müssten sich dann eben in der Schule ein bisschen Mühe geben beim
       Schreibenlernen. Letzte Bedenken räumt der UN-Generalsekretär aus: „Und
       wenn’s mal schnell gehen muss, nehmen wir Hieroglyphen.“
       
       5 Jul 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Oliver Domzalski
       
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