# taz.de -- Der Hausbesuch: Sie tanzt weiter
       
       > Ende Juni jährt sich der Tod von Pina Bausch zum 15. Mal. Die Tänzerin
       > Thusnelda Mercy war das erste Baby in Bauschs Kompanie.
       
 (IMG) Bild: Sie ist mit Pina Bausch groß geworden. Das prägt
       
       Pina Bausch fehlt, sagt Thusnelda Mercy. „Die Welt könnte gerade jemanden
       wie Pina gut gebrauchen.“
       
       Der Name: Wie ihr Kind heißen solle, fragten Dominique Mercy und Malou
       Airaudo, Tänzer*innen beim [1][Tanztheater Wuppertal], ihre Choreografin
       und Freundin vor 46 Jahren. „Thusnelda“ antwortete Pina Bausch den
       französischsprachigen Eltern. So kam es. Heute vermutet Thusnelda Mercy,
       dass die Choreografin es nur halb ernst meinte. Sie habe ihren Eltern nicht
       gesagt, was Thusnelda auf Deutsch bedeutet: Eine, die tut, was sie will.
       „So bin ich manchmal“, sagt die Namensträgerin. Eine „Tussi“, wie ihr
       Spitznamen früher lautete, sei sie aber nicht. Heute lacht sie darüber,
       während sie mit einer Tasse Tee in der Hand ihren Ort für Kunst und
       Kreatives zeigt, die „Tanz Station – Barmer Bahnhof“.
       
       Draußen: Über die Friedrich-Engels-Allee geht es am Engels-Haus und dem
       Museum für Industriekultur vorbei. Rechts das Opernhaus. Links die Wupper
       und über ihr die Schwebebahn. Am Hans-Dietrich-Genscher-Platz ist der
       Barmer Bahnhof, wo sich die Tanz Station befindet. Die Uhr an der Fassade,
       ein Wahrzeichen, steht auf 9.30 Uhr.
       
       Drinnen: „Willkommen in Wuppertal-Barmen“ steht auf einer gelben Wand in
       der Bahnhofshalle. Dort ist, wie versteckt, auch die Tür, die zum
       ehemaligen Bahnhofsrestaurant führt, das nach langer Renovierung 2020 zur
       Tanz Station wurde. Bedienungsknöpfe an einer Wand zeugen von dieser
       Vergangenheit. Thusnelda Mercy und ihr Partner, der Tänzer und Choreograf
       Pascal Merighi, mussten darum kämpfen, dass das alte Flair erhalten bleibt.
       Der Küchen- und Treppenboden etwa ist original. „Alle Schritte von allen
       Menschen, die diesen Boden betreten haben, sind noch da. Wie eine
       Choreografie“, sagt Mercy. Knapp 100 Quadratmeter groß ist der Raum, mit
       hohen Decken und bodentiefen Fenstern. Die Küche liegt über den
       Bahnsteigen. Die Durchsagen sind Teil der Soundkulisse; wenn die Züge
       kommen, muss man die Stimme heben. „Der Ort ist zwar statisch, aber erzeugt
       Bewegung“, sagt Mercy. Die Sonne strahlt durchs Fenster auf Blumen,
       Kaffeetassen und Plakate von Tanzprojekten und Performances. Die Tanz
       Station ist für die Familie wie ein Zuhause – auch für den vierjährigen
       Sohn. „Er hat schon beim Umbau mitgeholfen und war immer dabei.“
       
       Zu Hause: So war es bei Thusnelda Mercy als Kind auch. „In jedem Theater
       dieser Welt fühle ich mich zu Hause“, sagt sie. Sie müsse nur ankommen,
       schon sei es, als wäre sie schon immer dort gewesen. Mercy war mit ihren
       Eltern auf Proben, Aufführungen, Tourneen. Mit vier Jahren stand sie das
       erste Mal selbst vor Publikum. Ihr erster Auftritt war nicht bei [2][Pina
       Bausch], sondern bei der US-Choreografin Carolyn Carlson. Mercy stand mit
       ihrer Mutter auf der Bühne, beide trugen überdimensionale Tutus, sie
       falteten Papierschiffe.
       
       Erbe: Thusnelda Mercys Eltern, inzwischen Mitte 70, tanzen immer noch. Im
       Laufe ihres Lebens traten sie oft mit ihrer Tochter auf. Das letzte Mal in
       Venedig, 2019. Da waren auch Pascal Merighi und das Kind dabei, damals noch
       im Bauch. „Drei Generationen einer Familie auf der Bühne.“ Ob das Kind auch
       Tänzer wird? „Er liebt Rock ’n’ Roll“, sagt sie und zuckt mit den
       Schultern.
       
       Abwesenheit: „Es klingt nach einem Traum, eine Kindheit wie meine zu
       haben“, sagt Mercy. Doch es sei nicht alles immer einfach gewesen. „Meine
       Eltern konnten mir nicht mit Schularbeiten helfen, ich war oft bei
       Babysitterinnen.“ Manchmal waren sie drei Wochen weg, auf Tournee, etwa in
       Alaska. „Ich wusste nicht einmal, wo das ist. Damals gab es kein Internet
       oder Handys.“ Merighi und sie versuchen deshalb, viel Zeit mit ihrem Kind
       zu verbringen. Wobei das oft eine Gratwanderung sei. „Du kannst diesen Job
       nicht zu 50 Prozent machen. Tanzen ist eine 100-Prozent-Aufgabe.“
       
       Bewegung: „Tanz ist meine Kunst und meine Sprache“, sagt Thusnelda Mercy.
       Am liebsten kombiniert sie die Körpersprache mit anderen Künsten. Mit
       Wörtern, mit Musik, mit Bildern. Dass sie wie ihre Eltern tanzen würde, war
       nicht von Anfang an klar. „Und? Wirst du auch Tänzerin?“, wurde Thusnelda
       Mercy oft gefragt, als sie klein war. „Nein“, lautete ihre Antwort. „Ich
       dachte mir, meine Eltern machen das schon, warum sollte ich das auch
       machen? Als wäre da kein Platz mehr für mich.“ Eine Weile träumte sie
       davon, Kinderpsychologin zu werden – „was ich noch gerne versuchen würde,
       hätte ich ein extra Leben“. Als sie sich mit 16 doch für den Tanz entschied
       und dafür die Schule verlassen wollte, sagten die Eltern plötzlich Nein.
       Die Schule bringst du zu Ende, hieß es. „Damals war das schlimm, heute bin
       ich meinen Eltern dankbar.“
       
       Überzeugung: Weil sie mit der Schule nicht aufhören durfte, büffelte sie
       tagsüber fürs Abitur und fuhr abends nach Düsseldorf, um sich als Tänzerin
       und Schauspielerin am Theater der Klänge ausbilden zu lassen. Erst nach 22
       Uhr war sie zu Hause und musste tags darauf wieder früh aufstehen. „Ich
       wollte das. Und ich wusste, dass ich dafür kämpfen muss“, sagt sie.
       
       Noch eine Hürde: Nach ihrem Engagement als Tänzerin und Schauspielerin für
       das Theater der Klänge wollte sie „unbedingt“ ihr Tanzstudium an der
       Folkwang Universität der Künste in Essen fortführen. Doch beide Eltern
       hatten zu der Zeit dort Professuren. Alle rieten ihr davon ab, sie machte
       es trotzdem. Bei der Aufnahmeprüfung ging ihre Mutter raus, sie bestand die
       Prüfung. „Meine Mutter war viel strenger mit mir als mit anderen
       Studierenden. Sie wollte allen zeigen, dass ich keine Privilegien habe“,
       erzählt Mercy. Auch ihre Mitstudierenden seien ihr gegenüber befangen
       gewesen wegen dieser Elternsache. „Zwei oder drei Freund*innen habe ich
       kennen und lieben gelernt, mit denen ich noch befreundet bin und
       zusammenarbeite.“
       
       Berlin: Im Jahr 2000 wurde sie von der Choreografin Sasha Waltz für die
       Produktion „noBody“ engagiert. „Nach Berlin zu gehen, war ein Wendepunkt.
       Alles war einfacher. Ich war in der Folkwang unter Druck und bin auch krank
       geworden“, erzählt Mercy. Sie habe auch mit Pina Bausch darüber gesprochen.
       „Sie sagte mir, wenn ich nicht zu Sasha Waltz gegangen wäre, hätte sie mich
       irgendwo ins Ausland geschickt.“
       
       Freude: Mit Pina Bausch hat Thusnelda Mercy später das „Frühlingsopfer“
       getanzt. „Das war schon als Kind mein Traum.“ 2008 bat Bausch sie, bei der
       Entwicklung von „Sweet Mambo“ ihre Assistentin zu werden. „Für Pina war
       jede Person in einem kreativen Prozess wichtig, Techniker,
       Darsteller*innen, Kostümbildner*innen, alle.“ Bei ihr habe es nicht so was
       wie „ich sag’s und ihr macht’s“ gegeben, sie habe auf alle gehört. Von
       Bausch habe Mercy sehr viel gelernt. Mit ihr auf Tournee oder auf
       Recherchereise für ein neues Stück zu sein, sei ein Privileg gewesen, zum
       Beispiel verbrachten sie vier Wochen in der Atacama-Wüste in Chile. Pina
       Bausch sei immer allen Menschen mit Respekt und Freude begegnet. „Mit ihr
       waren wir nie Touristen. Vielleicht fühle ich mich deshalb nirgendwo
       fremd.“
       
       Trauer: Pina Bausch starb 2009, die Nachricht erreichte Thusnelda Mercy bei
       einer Tournee in Südamerika – mit Pina Bauschs Tanzensemble war sie dort
       unterwegs. „Aus dieser unglaublich tiefen Wut und Trauer entstand die
       Notwendigkeit, etwas zu kreieren. Sonst wären wir vielleicht auch ein
       bisschen gestorben“, sagt Mercy. Zusammen mit Clémentine Deluy und Damiano
       Ottavio Bigi gründete sie das Trio CDT. Mit ihrer Performance reisten sie
       nach Argentinien, Chile, Italien, Indien. „Das Bedürfnis nach etwas Eigenem
       war stark, ohne Pina wäre es nicht dasselbe gewesen, einfach
       weiterzumachen.“
       
       Leidenschaft: Bei einer Kooperation mit dem Trio traf sie Pascal Merighi.
       Zunächst wurde er ihr Kreativ-, dann ihr Lebenspartner. „Ich erinnere mich
       nicht mehr, warum wir zusammenkamen, vielleicht weil wir beide Franzosen
       sind“, sagt sie und lacht. 2017 gründete das Paar das Tanz-Duo „Kompanie
       merighi | mercy“, mit dem sie zuletzt im Mai eine Version des Mythos
       „Phaedra“ – frei nach Seneca – in Wuppertal inszenierten. Außerdem führen
       sie als Team die Tanz Station. „Ich bin glücklich, dass wir unsere
       Leidenschaft teilen.“
       
       Pina Bausch: „Etwas Neues als Künstlerin zu kreieren ist schwer, wenn du
       mit Pina gearbeitet hast“, sagt Thusnelda Mercy. „Wenn du an einen blauen
       Stuhl, an ein rotes Kleid, an Wasser denkst, [3][hat Pina das sicher schon
       vor dir gemacht].“ Sie hätte Pina Bausch gerne ihr Stück „Phaedra“ gezeigt.
       „Auch habe ich manchmal Lust, nächsten Monat in ein neues Stück von Pina zu
       gehen.“ Pina Bausch sei seit ihrer Geburt immer für sie da gewesen. „Und
       sie ist es immer noch.“
       
       30 Jun 2024
       
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