# taz.de -- 40 Jahre Hungerstreik Nordirland: Der Wendepunkt
       
       > Im Mai 1981 starb der IRA-Gefangene Bobby Sands im Hungerstreik. Das
       > führte zu einer Abkehr vom militärischen zum politischen Kampf.
       
 (IMG) Bild: Bobby Sands Porträt in Belfast, gemalt von seinem Freund Danny Devenney
       
       DUBLIN taz | Seinen Namen hatte ich schnell wieder vergessen. Er hatte sich
       uns im Felons Social Club auf der Falls Road in West-Belfast vorgestellt,
       weil an unserem Tisch noch ein Platz frei war. Er war, genau wie ich, 22
       Jahre alt, und er bestellte eine Runde, für die wir uns revanchierten, wie
       es in Irland üblich ist.
       
       Es war im September 1976. Ich hatte gerade einen Job als Assistenzlehrer
       für Deutsch in Lisburn südlich der nordirischen Hauptstadt angetreten. Da
       ich in Belfast wohnte, ging ich öfter in den Felons Club, weil das Bier
       dort billig war. Ein „Felon“ ist ein Verbrecher, aber das war ironisch
       gemeint: Die Clubmitglieder waren verurteilte Kämpfer der
       Irisch-Republikanischen Armee (IRA), und Nelson Mandela ist Ehrenmitglied.
       Der junge Mann, der sich an unseren Tisch setzte, hatte drei Jahre wegen
       Waffenbesitzes im Gefängnis verbracht und war im Frühjahr freigelassen
       worden.
       
       An den Wochentagen fuhr ich täglich die zehn Meilen lange Strecke nach
       Lisburn zu meiner Schule. Die Landstraße führte durch die Vororte Finaghy
       und Dunmurry, vorbei an der Balmoral Furniture Company. Eines Tages im
       Oktober war von dem Möbelgeschäft nur noch eine Ruine übrig. Die IRA hatte
       es am Abend zuvor in die Luft gesprengt. Die Polizei war recht schnell zur
       Stelle, und nach einer Schießerei wurden die vier IRA-Männer verhaftet.
       
       In der Zeitung stand ein ausführlicher Bericht über den Vorfall – mit Fotos
       der Attentäter. Einen davon erkannte ich sofort. Es war der junge Mann aus
       dem Felons Club. Sein Name war Bobby Sands. Er und die drei anderen wurden
       zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt.
       
       ## Insgesamt 9 Hungerstreikende starben
       
       Sie kamen ins Gefangenenlager Long Kesh in der Nähe von Lisburn. Im März
       1976 war der politische Status für die IRA-Gefangenen abgeschafft worden.
       So saßen sie nur mit einer Decke bekleidet in ihren Zellen, weil sie die
       Gefängnisuniform ablehnten. Nach jahrelangem erfolglosem Kampf gegen die
       Kriminalisierungspolitik griffen die Gefangenen zum letzten Mittel, das
       ihnen blieb. Sie traten in den Hungerstreik.
       
       Bobby Sands war der erste. Er starb vor 40 Jahren, am 5.Mai 1981, nach
       66-tägigem Hungerstreik. Mehr als 100.000 Menschen nahmen an der Beerdigung
       auf dem Milltown-Friedhof in Belfast teil. Nachdem neun weitere
       Hungerstreikende gestorben waren, brachen die Gefangenen ihre Aktion am
       3.Oktober 1981 ab. Da Premierministerin Margaret Thatcher ihren Ruf als
       „eiserne Lady“ gewahrt hatte, zeigte sie sich nun konzessionsbereit. Der
       politische Status wurde de facto wieder eingeführt.
       
       Sands war am 40. Tag seines Hungerstreiks bei einer Nachwahl ins britische
       Unterhaus gewählt worden. Ein anderer Hungerstreikender gewann die Wahl zum
       Dubliner Parlament. Bei Sinn Féin, dem damaligen politischen Flügel der
       IRA, setzte sich deshalb die Erkenntnis durch, dass eine politische
       Strategie neben dem bewaffneten Kampf erfolgversprechend sein könnte. 1986
       beschloss ein Parteitag, den Boykott des Dubliner Parlaments aufzugeben und
       die Sitze einzunehmen. Der Boykott des Londoner Unterhauses besteht bis
       heute.
       
       Danny Morrison, damals Vizepräsident von Sinn Féin, gilt als Erfinder der
       Doppelstrategie „die Wahlurne in einer Hand, das Gewehr in der anderen“. Er
       leitete die Wahlkampagne für Sands. Mary Lou McDonald, die
       Sinn-Féin-Präsidentin, war zwölf Jahre alt, als Sands starb. „Seine Wahl
       ins Unterhaus war ein Wendepunkt“, sagt sie, „dadurch wurde nicht nur der
       Grundstein für die politische Entwicklung von Sinn Féin gelegt, sondern sie
       bereitete auch den Boden für den Friedensprozess und alles, was danach
       folgte.“
       
       ## Der Frieden scheint gefährdeter denn je
       
       Heute scheint der Frieden, der am Karfreitag 1998 durch das Belfaster
       Abkommen besiegelt wurde, mehr gefährdet denn je. Seit Wochen liefern sich
       [1][protestantische Loyalisten Scharmützel mit der Polizei], manche der
       Angreifer sind nicht älter als zwölf Jahre. Hauptgrund ist das
       Nordirlandprotokoll des [2][Brexit-Vertrags]. Es regelt, dass Nordirland
       weiterhin Teil des EU-Binnenmarkts bleibt und sich deshalb an die
       Zollregeln der EU halten muss. Dadurch soll eine harte Grenze in Irland
       vermieden werden, aber stattdessen wurde eine Zollgrenze zwischen
       Nordirland und Großbritannien errichtet.
       
       Am Montag war der 100. Jahrestag der Teilung Irlands. Bei den Wahlen im
       nächsten Jahr könnte Sinn Féin stärkste Kraft werden – für die Unionisten
       ein unvorstellbares Szenario. Könnte Bobby Sands' Traum von einem
       vereinigten Irland in einigen Jahren doch noch wahr werden?
       
       Eine Giebelwand auf der Falls Road ziert sein Porträt, gemalt hat es Danny
       Devenney, sein Freund, seit sie sich 1973 im Gefängnis begegnet waren. Die
       beiden organisierten Irisch-Unterricht für andere Gefangene. „Wir hatten
       dieselben Interessen“, erzählte mir Devenney in seinem Studio neben einer
       Boxschule auf der Falls Road. „Wir liebten T-Rex, die Beatles und den
       Fußballer George Best. So wurden wir Freunde.“
       
       Im Felons Social Club finden heute Konzerte, Pressekonferenzen,
       Geburtstags-, Hochzeits- und Beerdigungsfeiern statt. Die Zeiten, in denen
       man aus Angst vor Anschlägen nur nach einer Leibesvisitation hineingelassen
       wurde, sind vorbei, und die ständigen Razzien der britischen Armee und der
       Polizei gibt es auch nicht mehr. Das Gebäude, das früher den Methodisten
       gehörte, ist nur einen Steinwurf vom Milltown-Friedhof entfernt, wo Bobby
       Sands begraben ist.
       
       6 May 2021
       
       ## LINKS
       
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