# taz.de -- Abschied vom Heizkraftwerk Süd in München: Das Anti-Wahrzeichen
       
       > In München wird der Kamin eines früheren Heizkraftwerks abgerissen. Das
       > ist zwar gut für die Energiewende, unseren Autor macht es jedoch
       > melancholisch.
       
 (IMG) Bild: Höher als die Frauenkirche: das Münchner Kraftwerk Süd vor Alpenpanorama
       
       Auf dem Wahrzeichen meines Viertels sitzt eine ferngesteuerte Spinne. Mit
       ihrem Maul wühlt sie in den Wänden des Turms, bricht Brocken heraus und
       stößt sie ins Innere. Ich kann das sehen, wenn ich vor die Haustür trete:
       Wieder ein paar Meter weg, immer besser lässt sich der Kopf der
       dreibeinigen, acht Tonnen schweren Spinne erkennen, immer lauter werden die
       Bisse, sie klingen nach Artillerie. Ein qualvoller Tod, man wohnt daneben
       und fühlt sich machtlos.
       
       Das Wahrzeichen ist keine Bavaria-Statue, keine gotische Kirche oder eine
       Bierbrauerei – sondern der Kamin des Heizkraftwerk Süd. Mit seinen 176
       Metern war er das zweithöchste Gebäude von München, direkt nach dem
       Olympiaturm. Auf den ersten Blick keine Schönheit, aber durch seine Wucht
       und Lage unweit vom Zentrum und direkt an der Isar durchaus monumental.
       
       Ich würde sogar behaupten, dass man den Kamin von weitaus mehr Orten in
       München sehen kann als das eigentliche Wahrzeichen der Stadt – die
       Frauenkirche. Der Kamin gab Sendling, einem durch ein Hochufer, die
       Stadtautobahn Mittlerer Ring, Bahngleise und Großmarkthalle in zig Mitter-,
       Ober- und Untersendlings zerteilten Viertel, so etwas wie ein Symbol.
       
       Im vergangenen Sommer, als noch nicht klar war, dass der Kamin nur langsam
       von der futuristischen Abrissbagger-Spinne abgerissen würde, sagte mir ein
       Sendlinger Wirt, dass eine Sprengung des Turms für das Viertel so etwas wie
       „unser 9/11“ würde. Das war natürlich ein fürchterlicher Vergleich und
       höchstens halb ernst gemeint. Trotzdem frage ich mich, warum neben vielen
       Sendlingern auch ich ausgerechnet beim Abriss eines Kraftwerkschlots
       sentimental werde, eigentlich ja Sinnbild eines positiven Wandels, weg von
       Verschmutzung und Emissionen. Früher wurde hier noch Müll verbrannt, bis
       1997. Jetzt entsteht nebenan eine Geothermie-Anlage.
       
       In meiner Kindheit, wenn es draußen heiß war und ich bei offenem Fenster
       schlief, war da manchmal dieses nicht gerade leise Rauschen, wie von einem
       Flugzeug (oder vielleicht doch einem UFO?), das sehr langsam näher kommt.
       Als ich meine Eltern fragte, woher das Geräusch komme, sagten sie: „Das ist
       das Heizkraftwerk, das lässt mal wieder Dampf ab.“ Mir war damals nicht
       bewusst, dass sie das im wörtlichen Sinne meinten, tatsächlich bliesen
       Müllverbrennungswerke früher ihre überschüssige Hitze einfach in die Luft.
       
       Dass die Geräusche nicht von Aliens, Monstern oder Bombern ausgingen,
       sondern lediglich von einem Turm mit Stimmungsschwankungen, war für mich
       ein beruhigender Gedanke, der mich friedlich schlafen ließ. Ich war damals
       aber auch weiter entfernt, auf der anderen Seite der Isar, den Kamin sah
       man lediglich aus dem Dachfenster. Ich möchte nicht wissen, wie laut das
       Rauschen damals in der direkten Nähe war, in der ich jetzt wohne.
       
       Ein Kraftwerk mitten in ein Wohngebiet zu bauen ist im Rückblick ja
       vollkommen irre. Mein Vater erinnert sich, wie er als Teenager ungläubig
       auf den neuen Kamin starrte, als dieser Ende der Sechziger plötzlich das
       Stadtbild veränderte. Später fuhr er mit seinem besten Freund und einem
       VW-Bus dorthin, um sich in der Schlange mit den Müllfahrzeugen einzureihen.
       Laut ihm war es damals tatsächlich möglich, seinen Müll im Inneren des
       Kraftwerks von einer erhöhten Rampe in der gigantischen Halle einer nicht
       minder gigantischen Müllzange zum Fraß vorzuwerfen.
       
       Ich hingegen kannte das Kraftwerk immer nur von außen. Als Kompassnadel,
       wenn man nach einer Party an der Isar nicht mehr genau wusste, in welche
       Richtung man denn nun heimzuradeln hatte. Und gewissermaßen auch als Symbol
       eines anderen München: weniger poliert, weniger Bussi-Bussi, nicht dieses
       lokalpatriotische Gedöns von Amore, Monaco, FC Bayern.
       
       Im Schatten des Kamins konnte man sich als verwöhnter
       Akademikerkind-Münchner zudem ein bisschen abfärbende industrielle
       Roughness einbilden: den Kamin als einen Mittelfinger in Richtung der
       Schickeria in ihren Penthäusern und City-Lofts, die langsam jegliches Leben
       aus dem Zentrum verdrängen. Als betongewordene Manifestation der Stadtteile
       mit der höchsten Boazn-Dichte, den knarzenden Güterwaggons und den
       TSV-1860-Wimpeln.
       
       Eventuell sind diese Erklärungen für meine Kamin-Melancholie aber auch
       leicht verhoben. Vielleicht ist es mit Wahrzeichen einfach wie mit
       Verwandten: Man kann sie sich nicht aussuchen, trotzdem wachsen sie einem
       ans Herz.
       
       Auf Facebook bin ich mittlerweile Mitglied einer Gruppe namens „HKW
       Sendling 70“, gewissermaßen ein Fotoalbum für alle Kamin-Anwohner. Die User
       posten dort die unterschiedlichsten Bilder: historische Aufnahmen des
       Kraftwerks, das Kraftwerk im Morgennebel, bei Sonnenuntergang, Familienfoto
       mit Kraftwerk, der halb abgerissene Kamin, Tränensmiley.
       
       Dort erfuhr ich auch von einer Aktion vor ein paar Wochen. Die von der
       Abrissspinne herausgebissenen Brocken zerschellen am unteren Ende des
       Kamins auf einem riesigen Haufen aus Autoreifen. Schon zwei Mal wurden die
       Brocken dann für einen guten Zweck verkauft. Beim nächsten Mal hole ich mir
       einen. Er wird in meinem Regal im Schlafzimmer stehen. In unruhigen Nächten
       werde ich ihn mir dann wie eine Muschel ans Ohr halten. Vielleicht lässt er
       ja Dampf ab.
       
       17 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Quentin Lichtblau
       
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