# taz.de -- AfD in der Stichwahl zum OB in Görlitz: Kampf um die schweigende Mehrheit
       
       > Nach dem Erfolg des AfD-Oberbürgermeisterkandidaten herrscht keine Panik.
       > Denn noch kann ein breites Bündnis Sebastian Wippel verhindern.​
       
 (IMG) Bild: Bei der Stichwahl geht es in Görlitz um viel
       
       GÖRLITZ taz | Zwei Tage nach der Kommunalwahl in Görlitz lächeln die
       Oberbürgermeisterkandidaten nach wie vor von den Plakaten herab: Die Grüne
       Franziska Schubert wie Octavian Ursu von der CDU. Oder schauen forsch
       entschlossen wie Sebastian Wippel von der AfD, der mit 36,4 Prozent
       Wählerstimmen im ersten Wahlgang vorn lag. Also wird am 16. Juni noch
       einmal gewählt. Dann genügt die einfache Mehrheit.
       
       „Der erste AfD-Oberbürgermeister in Deutschland ist noch zu verhindern“,
       lautet der Tenor vor allem unter jüngeren Leuten, die man in Görlitz
       anspricht. Dazu müssten allerdings entweder Ursu oder Schubert zurückziehen
       und die Gegenkräfte bündeln. Auch die Wähler der mit 5,5 Prozent
       abgeschlagenen Linken Jana Lübeck könnten dieses Lager verstärken. Sie hat
       bereits ihre Kandidatur zurückgezogen.
       
       Doch statt eine Absprache zu treffen, preschte der mit 30,3 Prozent
       zweitplatzierte Ursu vor und verkündete bereits am Montagmittag, erneut
       antreten zu wollen. Die Regionalausgabe der [1][Sächsischen Zeitung]
       feierte dies als „Ursus Kampfansage“. Sie gilt in Görlitz als CDU-nah, lag
       mit einer angeblich repräsentativen Umfrage vor dem ersten Wahlgang mit
       einer 40-Prozent-Prognose für Ursu um zehn Punkte daneben. Als das alte
       Platzhirsch-Gebaren der CDU wird dieser Alleingang bei den „Bürgern für
       Görlitz“ gewertet, die die nur reichlich zwei Prozent hinter Ursu liegende
       Franziska Schubert unterstützen.
       
       ## Die erste Trompete spielen
       
       Die CDU könne sich nur schwer daran gewöhnen, nicht mehr die erste Geige in
       Görlitz zu spielen, sagt eine junge Frau aus der Tourismusbranche auf der
       Steinstraße vor dem Schubert-Büro. Beziehungsweise die erste Trompete, denn
       der aus Rumänien stammende Octavian Ursu war früher Solotrompeter der
       Lausitzer Philharmonie. Bei der Bundestagswahl 2017 verlor hier der spätere
       Ministerpräsident Michael Kretschmer spektakulär sein Bundestagsmandat an
       die AfD.
       
       Der freundliche Ursu gilt nicht nur ihr als blass und als Opportunist und
       sollte deshalb zurückziehen, sagt die Frau. „Der macht, was alle machen“,
       zitiert sie aus einer Wahlveranstaltung. „Wir brauchen aber frischen Wind“,
       outet sie sich als Fan der 37-jährigen Franziska Schubert. Die will mit
       Ursu reden und muss bis Freitagnachmittag über ihre erneute Kandidatur
       entscheiden.
       
       Zufällig kommen auf der Steinstraße auch drei dunkelhäutige junge Männer
       vorbei. Sie sind anerkannte Asylsuchende aus Afghanistan und Syrien und
       sprechen gut deutsch. Von den politischen Zielvorstellungen der Parteien
       verstehen sie wenig, aber sie geraten auch nicht in Panik bei dem Gedanken
       an einen AfD-Oberbürgermeister. Seit ihrer Ankunft vor drei Jahren haben
       sie sich an die erstarkende Rechtspartei gewöhnt und an die gelegentlichen
       Anpöbelungen „Geh' zurück in Dein Land!“. „Görlitz ist nicht gut, aber
       anderswo ist es auch nicht besser“, sagen sie. Von den meisten Bürgern
       schlägt ihnen kein Hass entgegen, und wichtiger als die nur teilweise
       freundliche Atmosphäre ist ihnen eine erfolgreiche Arbeitssuche.
       
       ## Grenzkriminalität ist rückläufig
       
       Das Misstrauen der verunsicherten Rechtswähler „teilen“ sich die
       Flüchtlinge mit den polnischen Nachbarn. Wie meistens rechtfertigt die
       rückläufige Statistik der Grenzkriminalität an der Neiße das Ausmaß der
       gefühlten Unsicherheit nicht. Aber jeder Autodiebstahl, jeder gefasste
       Drogenhändler ist einer zu viel. Der Polizist Wippel setzte voll auf diese
       Trumpfkarte, und CDU-Konkurrent Ursu versuchte ihn mit dem Gestus des
       schützenden Patriarchen zu imitieren. Doch von Panik ist gerade bei Frauen,
       die sich angeblich nachts nicht mehr auf die Straße trauen, kaum etwas zu
       spüren.
       
       Zwischen den beiden OB-Wahlgängen ist Görlitz also keineswegs in Aufruhr
       geraten. Hinter der wahrnehmbaren Gelassenheit aber stecken auch
       bedenkliche Haltungen. Sechzehnjährige Schüler der Europaschule
       Augustum-Annen-Gymnasium wollen nach dem Abitur die Neißestadt auf jeden
       Fall verlassen. Ein AfD-Oberbürgermeister – „der Typ ist Scheiße“ – könnte
       diesen Trend noch verstärken.
       
       „Jugendliche wollen ihn nicht“, sagt die Wortführerin der Gruppe. Das hat
       auch einen sehr konkreten Grund. Sie wissen, dass die AfD landesweit die
       soziokulturellen Zentren beispielsweise mit Landtagsanfragen durchleuchtet
       und hinter ihnen den altbösen kommunistischen Feind wittert. Auch die
       beiden populären Görlitzer Jugendklubs „Basta“ und „Rabryka“ könnte es nach
       Wippel-Aussagen im Wahlkampf erwischen. Ein junger Mann aus der Gruppe
       glaubt allerdings nicht, dass es so schlimm kommt. „Erst mal abwarten, was
       die AfD macht“, sagt er furchtlos.
       
       ## Gefährdeter Geldhahn
       
       Im Rabryka-Verein „Second Attempt e.V.“ zeigt Vorsitzender Christian Thomas
       auch keine Panik. Ein sehr wohlwollender Eigentümer der Industriebrache an
       der Bautzener Straße lässt kreativen Initiativen und einem Bioladen freien
       Raum. 130.000 Euro institutionelle Förderung erhält der Verein jährlich,
       und die sieht Thomas trotz der nunmehr mit 30 Prozent stärksten Fraktion
       der AfD im Stadtrat nicht in Gefahr. Pikant ist allerdings, dass der bis
       2012 amtierende ehemalige CDU-Oberbürgermeister Joachim Paulick 2011 den
       Klubs schon einmal den Geldhahn zudrehen wollte. Paulick schult heute
       AfD-Kommunalpolitiker. Aus dem Widerstand gegen diese Kürzungen entstand
       2013 erst der Verein mit dem Jugendklub Rabryka.
       
       Im Gerhart-Hauptmann-Theater zeigt sich Generalintendant Klaus Arauner von
       der Größenordnung des AfD-Erfolges vor allem bei der Europawahl überrascht,
       bei der OB-Kandidat Wippel auch Stimmen zog. Er ist überzeugt, dass die
       AfD-Wähler des ersten Wahlgangs auch in zwei Wochen so abstimmen werden. Es
       komme eben auf ein Zusammengehen der Mehrheit von Bürgerbewegungen über
       Grüne und SPD bis zur CDU an.
       
       Einen Kulturkampf befürchtet Arauner wegen dieser Mehrheiten in Stadtrat
       und Kreistag nicht, wenn Wippel tatsächlich Oberbürgermeister werden
       sollte. Arauners persönlicher Referent Philipp Bormann, mit einer Polin
       verheiratet, ist insbesondere überzeugt, dass die Annäherungsprozesse
       zwischen sächsischen und polnischen Nachbarn von niemandem mehr zu stoppen
       sein werden, von der polnischen PiS nicht und nicht von einem
       nationalistischen deutschen Oberbürgermeister.
       
       29 May 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.saechsische.de/plus/ursu-macht-eine-kampfansage-5076221.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Bartsch
       
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