# taz.de -- Angst und Armut in Afghanistan: Brutalstmögliche Unfähigkeit
       
       > Sie behaupten, „Ordnung zu schaffen“. Tatsächlich stürzen die Taliban das
       > geschundene Land jedoch täglich tiefer ins Chaos.
       
 (IMG) Bild: Ein Familienvater in Kabul versucht, ein paar Habseligkeiten zu verkaufen
       
       Zwei Monate [1][nach der Machtübernahme der Taliban] in Afghanistan ächzt
       die Bevölkerung unter der neuen Herrschaft. „Die Sicherheit ist jetzt
       besser, der Krieg ist vorbei“ – immerhin hätten die Taliban die verminten
       Straßen freigeräumt, meinte etwa der Vorstand einer Tadschiken-Gemeinde aus
       der Provinz Logar südlich von Kabul gegenüber der taz. „Aber dafür gibt es
       viele neue Probleme. Die Märkte sind offen, doch es fehlt an Arbeit. Vorher
       gab es Unterstützung von Hilfsorganisationen, jetzt nicht mehr. Außerdem
       herrscht Dürre und wir hatten keine Ernte. Die Menschen kämpfen mit der
       Armut.“
       
       De facto kontrollieren die Taliban inzwischen das gesamte Land. Der letzte
       bewaffnete Widerstand gegen ihre Herrschaft blieb im Pandschirtal isoliert
       und brach schnell zusammen, das Parlament und zivilgesellschaftliche
       Organisationsstrukturen haben sich im Nullkommanichts aufgelöst, und auch
       machtgierige Warlords, die sich gegen die Taliban in Stellung bringen
       wollten, entpuppten sich schnell als Kolosse auf tönernen Füßen.
       
       Wie die Regierungsarmee stieben auch die Truppen der Warlords vor dem
       Ansturm der Taliban auseinander, ihre Befehlshaber flohen ins Ausland.
       Angeblich hat sich eine Exilregierung aus Resten des Pandschir-Widerstands
       und den Warlords formiert, das teilte jedenfalls die dissidente afghanische
       Botschaft zuletzt mit. Doch auch eine solche Exilregierung wäre nur der
       Versuch, den Machtanspruch einer alten Elite zu verlängern. Einer Elite,
       die über Jahre ein System der Korruption gefestigt und damit maßgeblich zum
       Scheitern des Afghanistan-Einsatzes westlicher Truppen beigetragen hat.
       
       Auch [2][der afghanische Ableger des „Islamischen Staates“] ist keine
       wirkliche Bedrohung für die Taliban mehr. Ende 2019 hatten sich sogar die
       kleinen salafistischen Gemeinschaften Ostafghanistans vom IS-Mini-Kalifat
       gelöst und dafür sowohl die Taliban wie auch Regierungstruppen zur Hilfe
       gerufen. Strategisch stellt der Terror versprengter IS-Gruppen deshalb
       höchstens einen marginalen Störfaktor dar.
       
       ## Im früheren Frauenministerium logiert jetzt die Moralpolizei
       
       Binnen weniger Wochen [3][schafften die Taliban etliche Frauenrechte ab].
       In einer ihrer ersten Amtshandlungen setzten sie die Geschlechtertrennung
       für die Universitäten in Kraft. In mehreren Provinzen [4][schlossen sie
       Mädchenschulen], in Kabul lösten sie das Frauenministerium auf und
       quartierten in dessen Gebäude ausgerechnet die berüchtigte Moralpolizei
       ein. Frauenhäuser schickten aus Angst vor Repressalien ihre Bewohnerinnen
       zurück zu ihren Familien. Unternehmerinnen schließen oder verkaufen ihr
       Business, weibliches Behördenpersonal wurde aufgefordert, zu Hause zu
       bleiben – oder zieht das von sich aus vor, weil Gerüchte über
       Zwangsverheiratungen mit Talibankämpfern die Runde machen.
       
       Andere Frauen erscheinen trotzdem noch an ihren Arbeitsplätzen, um sich den
       Anspruch auf ihr Gehalt zu bewahren. Die Taliban sagte zu, dieses auch an
       Frauen weiter auszuzahlen. Zugleich gingen sie jüngst immer wieder brutal
       gegen Demonstrantinnen vor, die ihre Rechte einforderten, [5][auch gegen
       Journalisten], die darüber berichteten. Höchst widersprüchlich sind die
       Botschaften, ist die Lage: Die ins Exil gegangene Chefin der Unabhängigen
       Menschenrechtskommission, Shaharzad Akbar, sagte Mitte September, die
       Taliban hätten alle Büros ihrer Organisation übernommen und zum Teil
       Unterlagen vernichtet. Ein Talibansprecher erklärte indes, die Kommission
       könne weiterarbeiten.
       
       Anfang Oktober berichtete Amnesty International, dass Talibankämpfer bei
       einer Schießerei in der Zentralprovinz Daikundi zwei frühere
       Regierungssoldaten, einen Zivilisten und ein 17-jähriges Mädchen getötet
       und anschließend neun weitere Regierungssoldaten erschossen hätten.
       Ähnliche Vorfälle wurden im August aus den Provinzen Ghasni und Kandahar
       gemeldet. Ebenfalls aus Daikundi berichtete im September die Kabuler
       Zeitung Hasht-e Sobh, dass örtliche Taliban Bauern vertreiben würden, die
       zur schiitischen Minderheit der Hasara gehörten. In Kandahar warfen sie
       Familien von Soldaten der früheren Regierungsarmee aus ihren Wohnungen.
       
       [6][Talibankommandeure aller Levels können in ihrem jeweiligen
       Einflussbereich offenbar machen, was sie wollen] – wohl auch deshalb sind
       die neuen Herrscher nicht in der Lage, das Land geordnet zu regieren. In
       Kabul demütigten Talibankämpfer öffentlich junge Männer, die Jeans trugen.
       In einigen Provinzen verboten sie Männern, sich zu rasieren, und Frauen,
       Handys zu benutzen oder ohne männliche Begleitung auf die Straße zu gehen.
       Dass Talibanführer wiederholt erklärten, solche Praktiken entsprächen nicht
       der offiziellen Politik, ändert an solchen Schikanen nichts.
       Sicherheitsanalysten in Kabul sprechen von einem „Mangel an Polizeiarbeit“,
       auch gegenüber den eigenen Leuten.
       
       ## Auch Gangster geben sich als Taliban aus
       
       Das schafft eine ungute Art von Freiräumen. Einwohner Kabuls sagten der
       taz, die Kriminalität nehme wieder zu, nachdem eine anfängliche „Atempause
       aus Angst vor den Taliban“ schnell wieder verflogen sei. Kriminelle oder
       inländische Flüchtlinge bewaffneten sich, gäben sich mitunter als Taliban
       aus und durchsuchten in deren Namen Häuser früherer Regierungsmitglieder
       oder konfiszierten Autos. [7][Private Rechnungen aus 20 Jahren eines
       allseits brutal geführten Krieges werden jetzt beglichen], obwohl die
       Talibanführung versprach, dies nicht zuzulassen.
       
       Entgegen früherer Ankündigungen greifen die Taliban auch nicht auf den
       Verwaltungsapparat der vorherigen Regierung zurück, um das Land am Laufen
       zu halten. Es herrschen nun überwiegend Mullahs. Bis hinunter zu den
       Abteilungsleitern schickten sie all jene nach Hause, die sie als
       „politisches Kaderpersonal“ der Vorgängerregierung betrachten. In den
       Ministerien, so Augenzeugen, fänden sich jetzt vor allem bewaffnete Männer
       ohne administrative Erfahrung. Taliban-Hochschulminister Abdul Baki Hakkani
       bezeichnete die Absolventen des modernisierten Bildungssystems der
       vergangenen 20 Jahre sogar als „nutzlos“.
       
       Vereinzelt gibt es jedoch auch gegenläufige Tendenzen. Ende voriger Woche
       sendete etwa der private afghanische Fernsehkanal Tolo TV Bildmaterial,
       nach dem zumindest in drei Provinzen in Nordafghanistan Mädchenschulen
       wieder geöffnet sind, „von Klasse eins bis zwölf“. Ende September hatte das
       UN-Kinderhilfswerk Unicef für die Ostprovinz Kunar auf Initiative der
       dortigen Talibanbehörden zugesagt, 500 Schnelllernzentren zu finanzieren,
       um kriegsbedingten Rückstand aufzuholen. Schon 2020 hatte Unicef in
       Aussicht gestellt, in Talibangebieten die Zahl der sogenannte
       gemeinschaftsbasierte Schulklassen, die oft in Privathäusern oder Moscheen
       untergebracht sind, von 680 auf 4.000 aufzustocken, ausdrücklich auch für
       Mädchen.
       
       Unterdessen leidet die Bevölkerung in Folge von De-facto-Sanktionen unter
       einem Wirtschaftskollaps, der sich von Tag zu Tag weiter verschärft. Die
       US-Regierung hat nach der Machtübernahme der Taliban die afghanischen
       Auslandsguthaben eingefroren, die sich auf neun Milliarden US-Dollar
       belaufen sollen. Regierungen von Geberländern, darunter die deutsche,
       stellten ihre Entwicklungszahlungen ein, aus denen zuvor oft auch die
       Gehälter für Angestellte der Regierung und von diversen
       Nichtregierungsorganisationen bestritten worden waren, und beschränken sich
       nun auf die humanitäre Nothilfe.
       
       ## Kein Bargeld, kein Brot, kein Strom
       
       Das führte zu akuter Bargeldknappheit. Vor den Banken bilden sich lange
       Schlangen. Kontenbesitzer kommen nur an Teile ihres Ersparten, Importeure
       lebenswichtiger Waren können ihre Lieferanten nicht bezahlen. Die
       Landeswährung Afghani verliert an Wert. Die Lebensmittelpreise sind massiv
       gestiegen, laut EU teilweise um über 50 Prozent.
       
       [8][Das trifft eine Bevölkerung, die ohnehin schon zu vier Fünfteln unter
       der Armutsgrenze lebt.] Familien versuchen, Haushaltsgegenstände zu Geld zu
       machen. Der Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts im Hauptbasar von Kabul
       sagte der taz, er bekomme „kaum noch das Brot für meine Familie zusammen“.
       Es gebe kaum Käufer, viele Geschäfte hätten bereits geschlossen. Laut
       Weltgesundheitsorganisation arbeiten derzeit nur noch 17 Prozent aller
       Kliniken, weil die Hilfsgelder versiegen.
       
       Nun droht auch ein Kollaps der Energieversorgung. 70 Prozent des
       afghanischen Strombedarfs werden aus dem Ausland gedeckt, aber die Taliban
       können die von der Vorgängerregierung übernommenen Schulden von 90
       Millionen US-Dollar bei den Lieferanten Tadschikistan, Usbekistan und
       Turkmenistan nicht bezahlen. Ein Arzt aus Wardak berichtete, er müsse
       Entbindungen im Licht von Taschenlampen durchführen, weil das Geld für
       Diesel für den Generator fehle. Das UN-Entwicklungsprogramm UNDP warnte
       bereits: Bis Mitte nächsten Jahres könnten 97 Prozent der Afghan:innen
       in Armut leben.
       
       15 Oct 2021
       
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