# taz.de -- Kein Kamikätzchen mehr
       
       > Das Nichts zwischen den Sternen ist größer geworden: Am Montag ist der
       > polnische Schriftsteller Stanisław Lem im Alter von 84 Jahren gestorben.
       > Er war nicht nur ein Vordenker technischer Entwicklungen, seine zahllosen
       > Romane, Essays und Traktate sprudeln auch über vor Schalkhaftigkeit und
       > Witz
       
       VON STEFAN WIRNER
       
       Kennen Sie Phantolemchen oder Kamikätzchen? Nein? Kein Wunder! Denn es gibt
       sie schon lange nicht mehr. Trurl, der Erfinder, baute einst eine Maschine,
       die alles herstellen konnte, was mit dem Buchstaben N begann. Seither gibt
       es Nonsens, Nekrophilie, Niedertracht und vieles mehr. Sein neidischer
       Kollege Klapauzius aber wollte die Maschine auf die Probe stellen. Er
       befahl ihr: „Maschine, schaffe Nichts!“ Und die Maschine machte sich ans
       Werk, erzeugte das Nichts und beseitigte Schritt für Schritt die
       Niedertracht, den Nonsens, die Nekrophilie, aber auch die Phantolemchen und
       die Kamikätzchen. Bald ahnten Trurl und Klapauzius, dass es das Ende der
       Welt bedeuten würde, wenn sie die Maschine nicht stoppten. Als sie ihr
       Einhalt geboten hatten, wünschte sich Klapauzius die Phantolemchen wieder,
       aber die Maschine erwiderte, sie könne sie nicht zurückbringen, weil sie ja
       nur Dinge erzeugen könne, die mit einem N begannen. Nonsens, Nekrophilie
       und Niedertracht gibt es seither wieder, Kamikätzchen und Phantolemchen
       sind für immer verschwunden.
       
       Es sind auch kleine Geschichten wie diese mit dem Titel „Wie die Welt noch
       einmal davonkam“, die neben seinen bekannten Romanen die Einzigartigkeit
       des Werkes von Stanisław Lem ausmachen. Der polnische Schriftsteller
       schrieb nicht nur eine Unzahl von Science-Fiction-Romanen, sondern auch
       philosophisch-utopische Traktate und Fabeln über das Verhältnis des
       Menschen zur Technik, Bagatellen voll abstruser Ideen und Spinnereien,
       voller Schalkhaftigkeit und Witz. In „Also sprach Golem“ macht er einen
       Computer zum modernen Zarathustra, der sich schließlich dem Schweigen
       hingibt; in dem Band „Dialoge“ erfindet er den sokratischen Dialog neu und
       lässt ihn von der Kybernetik handeln. Schon im 20. Jahrhundert stellt er
       seine „Bibliothek des 21. Jahrhunderts“ vor und bespricht Bücher, die es
       nicht gibt.
       
       Der Roman „Solaris“ und die „Sterntagebücher“ sind seine bekanntesten
       Werke. Im Letztgenannten schickt er seinen Piloten Ijon Tichy hinaus in die
       Weiten des Weltraums, um die Grenzen von Raum und Zeit zu überwinden,
       fantastische Gefahren wie etwa Zeitschleifen zu meistern und in Kontakt mit
       fremden Kulturen zu treten. Immer mit einem Augenzwinkern, weil sich der
       Positivist Lem mehr für die Vertracktheiten der Logik als für die Space
       Opera interessierte.
       
       In „Solaris“ entwirft Lem eine Parabel über die Grenzen von Kommunikation
       und Erkenntnis. Ein Thema des Romans ist die Verständigung mit
       außerirdischen Lebensformen. Der Psychologe Kris Kelvin soll die Rätsel des
       Planeten Solaris erforschen. Das fremde Wesen nimmt den Kontakt zu den
       Menschen auf, indem es Bilder, Erinnerungen, die im Unbewussten der
       anwesenden Wissenschaftler verborgen sind, kopiert und Gestalt werden
       lässt, zum Schrecken der Forscher. Auch in „Solaris“ zeigt Lem seinen
       spielerischen Umgang mit den Formen. Eindrucksvoll beschreibt er die
       Oberfläche des Planeten, diesen Ozean mit seinen bizarren „Mimoiden“ und
       „Symmetriaden“; das Buch ist auch eine Hommage an den Planeten, auf dem wir
       leben. Dann sichtet er die fiktive Literatur über Solaris, in erheiternden
       satirischen Passagen über den Streit der Wissenschaftler, Metaliteratur
       ohnegleichen.
       
       Lem wurde 1921 in Lwów, damals Polen, geboren. Schon als Kind machte er
       Experimente mit Drähten, Motoren, elektrostatischen Geräten und
       Vakuumröhrchen. Er studierte Medizin in Kraków, befasste sich aber bald mit
       Physik, Kosmologie und Philosophie. In der Zeit der deutschen Besatzung
       gehörte er der polnischen Widerstandsbewegung an. Im Jahr 1951
       veröffentlichte er seinen ersten Science-Fiction-Roman „Die Astronauten“.
       „Solaris“ erschien 1961, der Roman wurde zweimal verfilmt: von Andrei
       Tarkowski im Jahr 1972 und von Steven Soderbergh im Jahr 2003. Glaubte Lem
       zunächst an die unbegrenzten Möglichkeiten der menschlichen Vernunft, hing
       er bald einer skeptischeren Sicht an und distanzierte sich von der
       Science-Fiction-Literatur.
       
       Er war Wissenschaftler, Aufklärer und Skeptiker in einer Person. In den
       Gesprächen mit dem Literaturkritiker Stanisław Bereś, die in dem Band „Lem
       über Lem“ aus dem Jahr 1984 wiedergegeben sind, sagte er über sich selbst:
       „Ich bin von Natur aus ein Schwarzseher und Pessimist.“ Er sei ein
       „unverbesserlicher Skeptiker, der an alle diese Bermudadreiecke, fliegenden
       Untertassen, an Gedankenlesen, Psychokinese, das Seelenleben der Pflanzen
       und tausende andere Dinge“ nicht glaube. Vielmehr habe er erfahren, „dass
       diese Welt sich zum großen Teil aus Verrückten und Idioten zusammensetzt
       und dass ihr Schicksal weitgehend von diesen Idioten abhängt“.
       
       In der oben erwähnten Geschichte, in der die Dinge verschwinden, sagt Trurl
       am Ende zu Klapauzius: „Schau dir diese Welt nur richtig an, wie durchsiebt
       mit riesigen, klaffenden Löchern sie ist, wie voll von Nichts, einem
       Nichts, das die gähnenden Abgründe zwischen den Sternen ausfüllt; wie alles
       um uns herum mit diesem Nichts gepolstert ist, das finster hinter jedem
       Stück Materie lauert.“ Das Nichts zwischen den Sternen ist größer geworden:
       Am Montag starb Stanisław Lem im Alter von 84 Jahren in Kraków.
       
       29 Mar 2006
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) STEFAN WIRNER
       
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