# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Undurchsichtige Macht in Algerien
       
       > Präsident Bouteflika hat abgedankt. Nun befürchten viele Algerier, dass
       > Armee und Geheimdienste die Herrschaft unter sich aufteilen.
       
 (IMG) Bild: Auch diese Frau fordert auf der Straße die Gründung einer zweiten Republik – während einer Demo am 10. April 2019
       
       Seit dem 22. Februar kommt es in Algerien immer wieder zu großen
       Demonstrationen gegen das Regime. Die Proteste sind von historischem
       Ausmaß: Seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1962 hat das Land keine
       solche Bewegung mehr erlebt. Die Demonstrationen sind friedlich, und sie
       erstrecken sich über das ganze Land inklusive der Städte im Süden.
       
       Jeden Freitag, am ersten Tag des algerischen Wochenendes, gehen
       Hunderttausende auf die Straße. Unter den Demonstranten sind alle
       Altersstufen vertreten, aber vor allem die Jugend ist aktiv, die sich bis
       jetzt nicht besonders für Politik interessiert hat. Auch an den restlichen
       Tagen reißen die Aktionen nicht ab, es gibt Sit-ins und Protestmärsche von
       einzelnen Berufsständen (zum Beispiel Anwälten, Hochschullehrern oder
       Journalisten) und Pensionären.
       
       Ihre vordringlichste gemeinsame Forderung – ein Ende der Herrschaft des
       schwer kranken 82-jährigen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika – haben sie
       durchgesetzt: Am späten Abend des 2. April überreichte Bouteflika dem
       Präsidenten des algerischen Verfassungsrats seine Rücktrittserklärung.
       
       Aber die Demonstranten, die mit dem Ruf „Silmiya!“ („Friedlich!“) durch die
       Straßen ziehen, protestieren auch gegen die Entourage des Präsidenten, vor
       allem seine beiden Brüder Said und Nacer Bouteflika. Sie fordern das Ende
       des Regimes und die Gründung einer zweiten Republik; manche wollen eine
       verfassunggebende Versammlung. Die Ordnungskräfte haben sich in den ersten
       Wochen der Proteste weitgehend zurückgehalten; einige Polizisten und
       Gendarmen haben sich sogar mit den Demonstrierenden solidarisiert.
       
       Nach seiner Rückkehr aus der Schweiz, wohin Bouteflika Anfang Februar zu
       einem „regelmäßigen Gesundheitscheck“ gereist war, hatte sich der
       Ex-Präsident in mehreren Briefen an die Algerier gewandt. Darin teilte er
       mit, er strebe keine fünfte Amtszeit mehr an, und sagte die für den 18.
       April geplante Präsidentschaftswahl ab.
       
       ## Wer entscheidet hinter den Kulissen für Bouteflika?
       
       Angesichts des schlechten Gesundheitszustands Bouteflikas fragen sich die
       Algerier allerdings schon seit Längerem, wer hinter den Kulissen für ihn
       entscheidet. Wer schrieb seine Briefe an das Volk? Wer ernennt oder
       entlässt den Premierminister? Und wer hat Bouteflika dazu gedrängt, nun
       doch seinen Hut zu nehmen?
       
       Es geht dabei um die Identität derjenigen, die man in Algerien als „die
       Entscheider“ bezeichnet (les décideurs). Der Begriff wurde zum ersten Mal
       von Muhammad Boudiaf, dem legendäre Mitbegründer der Nationalen
       Befreiungsfront (FLN), gebraucht, als er im Januar 1992 aus dem Exil
       zurückkehrte. Damals durchlebte Algerien eine schwere politische Krise.
       Präsident Chadli Bendjedid war von der Armee zum Rücktritt gezwungen
       worden, und der Hohe Sicherheitsrat (HCS) hatte die zweite Runde der
       Parlamentswahlen abgesagt, um einen Sieg der Islamischen Heilsfront (FIS)
       zu verhindern, die den ersten Durchgang gewonnen hatte.(1)
       
       „Ich habe mit den décideurs gesprochen und mich entschieden, dem Ruf
       Algeriens zu folgen“, verkündete Boudiaf damals und rechtfertigte damit
       seine Ernennung zum Vorsitzenden des Hohen Staatsrats (HCE) – einer
       Übergangsinstitution, die das konstitutionelle Vakuum nach der Abdankung
       Benjedids füllen sollte.
       
       Boudiaf, der nur knapp sechs Monate später von einem seiner Leibwächter
       ermordet wurde, hütete sich allerdings, die „Entscheider“ beim Namen zu
       nennen. Mit ihm hatte man sich einen langjährigen Oppositionellen ins Boot
       geholt, der das Regime stets geschmäht hatte(2) und ihm nun historische
       Legitimation verleihen sollte.
       
       Die Algerier waren schon damals überzeugt, dass Boudiaf und der HCE nur als
       Fassade dienen sollten. Im April 1992 gab Boudiaf gegenüber Journalisten
       zu, dass er „nicht alle Entscheider“ kenne. Später fielen oft die Namen der
       Generäle Larbi Belkheir, Khaled Nezzar, Mohamed Mediène – genannt „Toufik“
       – und Mohamed Lamari. Aber bis heute weiß niemand ganz genau, wie und mit
       welchen internen Absprachen die „Janvieristes“(3) seinerzeit
       entschieden, den „Algerischen Frühling“ zu beenden, den demokratischen
       Übergangsprozess also, der nach den blutigen Unruhen vom Oktober 1988
       begonnen hatte.
       
       Damals hatte das Regime auf hunderte junge Demonstranten schießen lassen –
       Schätzungen gehen von etwa 600 Toten aus –, setzte in der Folge jedoch
       einige Reformen in Gang, darunter die Einführung eines Mehrparteiensystems
       und die Liberalisierung der Presse.
       
       ## Die Stabiliät des Regimes hat oberste Priorität
       
       Das Wesen der aktuellen Proteste unterscheidet sich zwar von den Unruhen
       Ende der 1980er Jahre, aber auch in der aktuellen Krise geht es um die
       Undurchsichtigkeit „der Macht“. „Wer sind die Strippenzieher, die
       Bouteflika tanzen lassen?“, stand auf einem Spruchband der Demonstration
       in Algier am 15. März. „Warum verstecken sich die Entscheider?“, war auf
       einem anderen zu lesen. Diese Fragen sind nicht neu. Um sie zu beantworten,
       muss man nachverfolgen, wie Präsident Bouteflika im Verlauf seiner vier
       Amtszeiten (1999–2019) seine persönliche Macht innerhalb des Regimes immer
       weiter ausgebaut hat.
       
       1965 stürzte Houari Boumediene, der den Großteil der Macht auf sich und
       seine Gefolgsleute im Revolutionsrat (Conseil de la Revolution) vereinigt
       hatte, den ersten Staatspräsidenten Ben Bella und fungierte dann selbst bis
       1978 als Präsident. Unter Chadli Benjedid (1979–1992) entwickelten sich
       innerhalb des Regimes drei Machtzentren: der Generalstab der Nationalen
       Volksarmee (ANP), die Geheimdienste – darunter der Militärgeheimdienst (SM)
       – und der Präsident mit seinen Sicherheits- und Wirtschaftsberatern.
       
       Bei Entscheidungen in sensiblen Bereichen übermittelten alle drei Lager
       ihre jeweiligen Einschätzungen und Empfehlungen. Dabei rivalisierten sie
       untereinander, allerdings stets in dem Bewusstsein, dass die Stabilität des
       Regimes oberste Priorität hätte.
       
       Die verbreitete Vorstellung, die Einheitspartei FLN habe Algerien seit der
       Unabhängigkeit geführt, ist falsch. Zusammen mit der Armee konnte die
       Partei sich zwar auf ihre im Unabhängigkeitskampf erlangte historische
       Legitimität stützen, doch sie stellte kein viertes Machtzentrum dar: Die
       FLN-Kader hatten kaum Einfluss auf die Geheimdienste oder den Generalstab,
       und das Politbüro der FLN wurde vom Präsidentenbüro kontrolliert.
       
       ## Die „Reinheit“ des Systems
       
       Vor der ersten Wahl Bouteflikas 1999 hatten die Armee und die Geheimdienste
       schon seit langer Zeit die Oberhand über die Präsidentschaft gewonnen. 1992
       hatten sie Präsident Benjedid entfernt und sorgten auch für den Rücktritt
       von Präsident Liamine Zéroual (1995–1999), weil dieser sich weigerte, ein
       1997 zwischen den Geheimdiensten und der AIS, dem bewaffneten Arm der
       Islamischen Heilsfront (FIS) geschlossenes Abkommen aufzukündigen. Nachdem
       Bouteflika den Präsidentenpalast El Mouradia hoch über Algier bezogen
       hatte, machte er sich sehr schnell daran, dem Amt des Präsidenten wieder
       mehr Gewicht zu verleihen. Er werde niemals nur ein „Dreiviertelpräsident“
       sein, verkündete er.
       
       Dieser Ausspruch ließ zwei zentrale Absichten Bouteflikas erkennen: Erstens
       wollte er keinesfalls einem neuen Algerischen Frühling den Weg bereiten.
       Sein Ziel war es, die ursprüngliche „Reinheit“ des Systems
       wiederherzustellen, also die Bündelung der Macht von Armee und
       Geheimdiensten unter der Kontrolle eines mächtigen Präsidenten, wie es
       unter dem 1978 verstorbenen Houari Boumediene der Fall gewesen war.
       
       Dass Bouteflika seinerzeit die Nachfolge seines Ziehvaters Boumediene
       verwehrt worden war, hat auch mit der Frage der politischen Kultur zu tun.
       Bouteflika, der zwischen 1963 und 1979 Bous Außenminister gewesen war,
       gehört zu einer Generation, die keinerlei Einschränkungen in der Ausübung
       der politischen Macht akzeptiert. Seine seltenen Reden über die Demokratie
       konnten nie überzeugen, auch nicht, als er am 8. Mai 2012 in Setif
       verkündete, dass die Generation der Revolution „am Ende“ und für ihn die
       Zeit gekommen sei, die Verantwortung aus der Hand zu geben. Trotz dieser
       Ankündigungen trat er kurze Zeit später seine vierte Amtszeit an und sorgte
       dafür, dass die Politik der Hinterzimmer weitergeführt wurde.
       
       Zweitens wollte Bouteflika keine bloße Marionette der Armee sein. Trotz der
       Allmacht, die man der Nationalen Volksarmee zuschreibt, erwies sich dieses
       Vorhaben nicht als komplett aussichtslos. Die Militärs, auch die in den
       Geheimdiensten, waren stets bereit, ein Minimum an formalem Legalismus zu
       respektieren. Und in dieser Hinsicht war die Unterschrift des Präsidenten –
       mit der hohe Funktionäre oder Militärs ernannt, entlassen oder in den
       Ruhestand versetzt werden können – eine starke Waffe, von der Bouteflika im
       Verlauf der vergangenen 20 Jahre ausgiebig Gebrauch gemacht hat.
       
       Seine ersten drei Amtszeiten (1999–2014) waren geprägt vom Umbau und der
       Stärkung des präsidentiellen Machtzentrums – auf Kosten der beiden anderen.
       Dabei profitierte Bouteflika auch von seinem Prestige als geschickter
       Diplomat: Den Generälen und Geheimdienstlern versprach er, das Bild
       Algeriens im Ausland zu verbessern und das Schreckgespenst der
       internationalen Strafverfolgung zu vertreiben. Denn viele Militärs waren
       während des „schwarzen Jahrzehnts“ (1991–2000) daran beteiligt gewesen,
       Menschen massenhaft verschwinden zu lassen und zu ermorden.
       
       ## Scharfsinniger Manipulator
       
       Nach innen wie nach außen machte sich Bouteflika sein Image als Mann, „der
       den Frieden zurückgebracht hat“, zunutze – obwohl der Frieden bereits vor
       seinem Amtsantritt ausgehandelt worden war. Und er erinnerte die Generäle
       stets daran, was sie ihm schuldeten und was sie durch seine Absetzung
       verlieren würden. Wenn er diesen oder jenen General in den Ruhestand
       versetzte oder, wie 2004, auf den Rücktritt eines „Janvieristen“ vom
       Kaliber Mohamed Lamaris drängte – langjähriger Generalstabschef und
       Architekt des Antiterrorkampfs gegen die bewaffneten islamistischen
       Gruppen –, widersetzten sich die anderen „Entscheider“ unter den Generälen
       nicht.
       
       Als scharfsinniger Manipulator verstand es Bouteflika auch, die Rivalität
       zwischen dem Generalstab – den „Militärs in Uniform“ – und den
       Geheimdiensten – den „Militärs in Zivil“ – auszunutzen. Durch den Krieg in
       den 1990er Jahren hatte der Geheimdienst DRS (Département du
       renseignement et de la sécurité, Nachfolger der SM) immer mehr Einfluss
       auf die Politik gewonnen. Folglich schmiedete Bouteflika 2002 ein Bündnis
       mit General Ahmed Gaid Salah, der seit 2004 Generalstabschef und seit 2013
       Vizeverteidigungsminister ist.
       
       „Der älteste aktive Soldat der Welt“, wie der heute 79 Jahre alte Salah in
       Algerien ironisch genannt wird, verkörpert seither die Rache der „Militärs
       in Uniform“ an den Kollegen von den Diensten. Zahlreiche Entlassungen in
       den höchsten Rängen der Armee haben Salahs Position gefestigt und ihn zu
       einem Stützpfeiler des Bouteflika-Systems gemacht. „General Ahmed Gaid
       Salah hat Bouteflika viel zu verdanken“, sagt ein hoher Offizier. Kein
       Wunder also, dass der Generalstabschef eine fünfte Amtszeit Bouteflikas
       zunächst unterstützte.
       
       Die Einhegung der algerischen Geheimdienste durch den Präsidenten war
       allerdings kein leichtes Unterfangen. Nach einer Phase des Rückzugs
       erlangte der DRS ab 2010 wieder mehr Einfluss. Dabei machte er sich diverse
       Korruptionsaffären zunutze, in die Vertraute des Präsidenten verstrickt
       waren. So brachten die Geheimdienstler einen großen Teil des Managements
       von Sonatrach, dem staatlichen Mineralölunternehmen, zu Fall und zwangen
       den damaligen Energieminister Chakib Khelil, einen engen Vertrauten
       Bouteflikas, zum Rücktritt.
       
       Der Angriff auf die Erdgasförderanlage in In Aménas im Januar 2013 durch
       die Dschihadistengruppe al-Muwaqqi’un bil-Dima („Die mit Blut
       unterzeichnen“), der mit einer Geiselnahme einherging, gab Bouteflika und
       den Militärs in Uniform Gelegenheit, den Schwung des DRS zu stoppen. Der
       Fall In Aménas offenbarte schwere Versäumnisse des Geheimdienstes und
       öffnete so den Weg für dessen Restrukturierung. Im September 2015 wurde
       schließlich der langjährige DRS-Chef General „Toufik“ Mediène entmachtet.
       
       Der DRS wurde durch die Direction des services de sécurité (DSS) abgelöst,
       die nun direkt dem Präsidenten unterstand. Auch der Generalstab übernahm
       einen Teil der Aufgaben, die zuvor dem DRS oblagen. Im Frühjahr 2013 stand
       Bouteflika kurz vor seinem Ziel, ein Vierviertelpräsident zu sein. Doch
       dann machte ihm seine Gesundheit einen Strich durch die Rechnung: Nach
       einem Schlaganfall am 27. April 2013 war er nicht mehr in der Lage, den
       Wahlkampf für seine vierte Amtszeit selbst zu bestreiten.
       
       ## Zustände wie in einer Golfmonarchie
       
       Seit diesem Zeitpunkt wurde das algerische Regime noch undurchsichtiger.
       Allerdings ließen sich bestimmte Veränderungen innerhalb der
       Präsidentschaft beobachten. Seit seiner ersten Amtszeit hatte Bouteflika im
       Bemühen, den Einfluss der Militärs zurückzudrängen, die
       Führungspositionen ziviler Institutionen (Verfassungsgericht,
       Rechnungshof etc.) mit Vertrauten besetzt, die oft aus dem Westen Algeriens
       stammten.
       
       Er sorgte dafür, dass das Parlament, die Gewerkschaften und
       Arbeitnehmerverbände ihm vollständig ergeben waren; deren Lobeshymnen und
       Liebeserklärungen erinnerten bisweilen an die Zustände in einer
       Golfmonarchie. Resultat war ein Personenkult, der in der Geschichte der
       Unabhängigkeit Algeriens einmalig ist. Der Präsident, dessen Konterfei
       allgegenwärtig ist, wird als fakhamatouhou (Seine Exzellenz, Seine Hoheit)
       angeredet.
       
       Um seine Macht zu festigen, umgab sich Bouteflika auch mit Verwandten, etwa
       seinem Bruder Said, ein 61-jähriger Hochschullehrer. Diese Leute übernahmen
       die Rolle von Beratern ohne präzise definierten Aufgabenbereich, aber mit
       dem blinden Vertrauen des Rais. Im Namen des Präsidenten wurden sie direkt
       bei Ministern vorstellig, aber auch bei Walis (Regionalpräfekten) und sogar
       bei westlichen Diplomaten in Algier.
       
       Der Premierminister fungierte entweder als treuer Vollstrecker der
       Anweisungen des Präsidentenclans oder, wie der am 12. März zurückgetretene
       Ahmed Ouyahia, als eine Art Mittler zwischen den verschiedenen
       Machtzentren des Regimes. Eines aber hatten alle Premiers der Ära
       Bouteflika gemeinsam: Sie hatten keinerlei Handlungsfreiheit gegenüber dem
       Präsidenten oder, seit 2013, gegenüber seinem Clan.
       
       Innerhalb von Bouteflikas innerstem Zirkel hatte sich in den vergangenen
       Jahren ein neues Machtzentrum gebildet. Es bestand aus Geschäftsleuten, die
       Said Bouteflika nahestanden, darunter auch solche, die bis Anfang der
       2000er Jahre noch kleine Unternehmer waren und mit zahlreichen
       Infrastrukturaufträgen des Staats reich geworden sind. Mit Öl- und
       Gasexporten hat Algerien zwischen 2000 und 2015 mehr als eine Billionen
       US-Dollar an Devisen eingenommen. Diese Rente hielt den auf Korruption
       basierenden algerischen Kapitalismus am Leben (siehe Text auf Seite 6).
       
       Niemand symbolisierte den Aufstieg der politisch einflussreichen Oligarchen
       deutlicher als Ali Haddad, der langjährige Präsident des mit Abstand
       wichtigsten Unternehmerverbands (FCE). Dem FCE gelang es zum Beispiel im
       Sommer 2017, den gerade erst ernannten Premierminister Abdelmadjid
       Tebboune gleich wieder abzusägen, weil dieser plante, den Bezug von
       Devisen für private Importeure zu beschneiden.
       
       ## Offen, wie es politisch weitergeht
       
       Als Haddad Ende März von seinem Amt als FCE-Präsident zurücktrat und in der
       Nacht auf den 31. März an einem algerisch-tunesischen Grenzübergang wegen
       Devisenvergehen festgenommen wurde, war das ein klares Zeichen dafür, dass
       es mit der Präsidentschaft Bouteflikas zu Ende ging. Mittlerweile dürfen
       zahlreiche dem Bouteflika-Clan nahestehende Geschäftsleute Algerien nicht
       mehr verlassen, Privatflugzeuge haben auf den Flughäfen des Landes
       Startverbot.
       
       Schon in den Wochen vor Haddads Verhaftung war deutlich geworden, dass sich
       der Generalstab angesichts der anhaltenden Proteste immer stärker von
       Bouteflika distanzierte. Nachdem Gaid Salah am 6. März noch behauptet
       hatte, die Proteste seien „das Werk bestimmter Kräfte, die Algerien in die
       Jahre der Hölle zurückwerfen wollen“, änderte der General den Ton und
       verkündete am 10. März: „Algerien kann sich seines Volkes glücklich
       schätzen, und die Armee kann sich ihres Volkes glücklich schätzen.“
       
       Zehn Tage später begrüßte er das „tiefe Volksbewusstsein der
       Demonstranten“ und versicherte, [1][dass es für jedes Problem eine, wenn
       nicht gar mehrere Lösungen gebe]. Am 26. März forderte Gaid Salah
       schließlich öffentlich die Anwendung des Artikels 102 der algerischen
       Verfassung, sprich die Absetzung des Präsidenten aus gesundheitlichen
       Gründen.
       
       Noch im vergangenen Herbst hatte Bouteflikas Entourage versucht, dem
       Generalstab und den Geheimdiensten die Idee einer Verlängerung der vierten
       Amtszeit zu verkaufen. Aus fünf Jahren sollten sieben werden, an deren Ende
       Bouteflika abtreten würde. Damit blieb man der alten Strategie des Regimes
       treu: Zeit gewinnen um jeden Preis. Die Option einer auf sieben Jahre
       verlängerten Amtszeit wurde allerdings Ende 2018 aufgegeben. Es gab einfach
       keine vernünftigen Gründe, die man als Rechtfertigung hätte vorbringen
       können, zudem wäre eine Verfassungsänderung erforderlich gewesen.
       
       Ende März unternahm der Präsidentenclan offenbar einen letzten Versuch,
       zumindest mittelbar die Kontrolle über die politischen Geschicke des Landes
       zu behalten: Am 2. April – dem Tag von Bouteflikas Rücktritt – verschickte
       Ex-Präsident Liamine Zéroual eine Mitteilung an algerische Medienhäuser, in
       der er erklärte, er habe einige Tage zuvor von Ex-DRS-Chef „Toufik“ Mediène
       den Vorschlag erhalten, den Vorsitz einer „Instanz zur Organisation einer
       Übergangsperiode“ zu übernehmen.(4) Mediène habe ihm bestätigt, so Zéroual,
       dass der Vorschlag mit Said Bouteflika abgestimmt sei.
       
       Nach dem Rücktritt Bouteflikas ist nun völlig offen, wie es politisch in
       Algerien weitergeht. Laut algerischer Verfassung übernimmt bei einem
       Rücktritt des Staatsoberhaupts der Präsident des Oberhauses des algerischen
       Parlaments den Präsidentenposten – um in einer Interimsperiode von 90 Tagen
       Neuwahlen zu organisieren. Gleichzeitig bleibt die amtierende Regierung im
       Amt. Das Problem ist allerdings, dass sowohl Parlamentspräsident Abdelkader
       Bensalah als auch der amtierende Regierungschef Noureddine Bedoui und der
       Präsident des algerischen Verfassungsrates Tayeb Belaïz als Männer des
       Regimes gelten und von den Demonstranten auf der Straße nicht als Köpfe
       eines glaubhaften demokratischen Übergangs akzeptiert werden.
       
       Die Protestbewegung fordert mittlerweile lautstark einen Regimewechsel, der
       über die Abdankung des Präsidentenclans hinausgehen soll. Die Parole
       „Yatnahawga’“ („Sie sollen alle abhauen“) macht die Runde. Am Freitag, den
       5. April, gingen erneut Hunderttausende auf die Straße.
       
       Vieles wird nun davon abhängen, wie sich die Armee und die Geheimdienste
       verhalten. Werden die Militärs, ob in Uniform oder in Zivil, einen
       grundlegenden politischen Wandel akzeptieren und auf ihren Einfluss
       verzichten? „Die Armee hat Angst davor, Rechenschaft ablegen zu müssen und
       ihre finanziellen Vorteile zu verlieren“, sagt der bereits zitierte
       Offizier. „Und sie fürchtet, unter die Kontrolle von Zivilisten zu
       geraten.“
       
       Während die algerische Bevölkerung, der viele bis vor Kurzem völlige
       Resignation nachsagten, eine beeindruckende Reife beweist, ist es jetzt an
       der Armee, die Revolution zu Ende zu bringen. Sie muss das politische Feld
       räumen.
       
       (1) Siehe Abed Charef, „Algérie. Le grand dérapage“, La Tour-d’Aigues
       (L’Aube) 1994. 
       
       (2) Mohamed Boudiaf, „Où va l’Algérie ? Notre révolution“, Paris (Éditions
       Librairie de l’Étoile), 1964. 
       
       (3) Wörtlich: „Januaristen“, nach dem Zeitpunkt der Aussetzung des
       Wahlprozesses im Januar 1992. 
       
       (4) Siehe „Liamine Zéroual enfonce le général Toufik et Said Bouteflika“,
       TSA Algerie, 2. April 2019. 
       
       Aus dem Französischen von Jakob Farah
       
       14 Apr 2019
       
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       hatte ihn dazu gedrängt.
       
 (DIR) Algeriens Präsident vor dem Aus: Bouteflika tritt zurück
       
       Nach anhaltenden Massenprotesten hat Algeriens Präsident Abdelaziz
       Bouteflika seinen Rückzug bis zum 28. April bekanntgegeben. Es ist ein
       Abschied auf Raten.