# taz.de -- Ausstellung über Christian Boltanski: Eine Weltfamilie aus Individuen
       
       > Christian Boltanski ist eigentlich Minimalist, der sich mit dem Sterben
       > und dem langsamen Verblassen der Erinnerung befasst. Die aktuelle
       > Wolfsburger Ausstellung hat allerdings einen Hang zum Sentimentalen.
       
 (IMG) Bild: Überlagerungen, flüchtig und poetisch: Boltanskis "Geist(er)".
       
       WOLFSBURG taz | Der französische Künstler Christian Boltanski hat einmal
       erzählt, wie er ab 1968 anfing, in einem Pariser Kino eigene Kurzfilme zu
       zeigen, um die bis dato von ihm betriebene Malerei zu überwinden. Da dieses
       Kino auch Werke von Polanski zeigte, ließ sich Boltanski ob der
       Namensverwechslung gern beglückwünschen, stellte die Sachlage aber nie
       richtig. Ganz im Gegenteil: Boltanski fand und findet es wichtig, dass
       Kunst Irrtümer zulässt, nichts festlegen oder gar beweisen will.
       
       Boltanski, dem derzeit eine Ausstellung im Wolfsburger Kunstmuseum gilt,
       ist ein Meister des Unbestimmten. In seinen künstlerischen Darstellungen
       greift er dabei zu leicht identifizierbaren, populären und vieldeutigen
       Medien – zu riesigen fotografischen Konvoluten ohne Titel zum Beispiel.
       
       Das große Thema des 1944 in Paris Geborenen ist der Tod des Menschen. Sein
       Verschwinden und Vergessenwerden, das sich in vielen Phasen vollzieht.
       Hintergrund ist Boltanskis eigene Kindheit als Sohn einer katholischen
       Mutter und eines jüdischen Vaters, der sich während der Besatzung
       Frankreichs durch Nazi-Deutschland in einem Verlies im Dielenfußboden der
       Wohnung verstecken musste.
       
       Aber nicht der Holocaust steht im Zentrum der archivarischen und
       installativen Reflexionen Boltanskis. Er will eher das anonyme Sterben der
       modernen Industriegesellschaften ausleuchten. Und er tut das, indem er
       starke emotionale Reaktionen erzeugt. Da sind zum Beispiel seine Inventare:
       Vitrinen oder Schaukästen, die Habseligkeiten, Nachlässe oder Möbel einer
       Person zeigen. Und in Basel ließ er für seine große
       „Purim-Fest“-Installation einmal einen Ausstellungssaal mit getragenen
       Kleidern auslegen, über die der Besucher gehen musste. Ein scharfer,
       eindrucksvoller Kontrast: die ausgelassene Stimmung eines jüdischen Festes
       mit seinen traditionell bunten Verkleidungen, überlagert von einer
       Katastrophen-Assoziation.
       
       Die aktuelle Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg zeigt unterdessen eine
       neue, speziell für diesen Ort konzipierte Kinetik Christian Boltanskis. Er
       steht damit der Wolfsburger Reihe der ’Großen Hallenprojekte‘, zu denen in
       den letzten Jahren unter anderem Douglas Gordon, James Turrell oder Gerwald
       Rockenschaub eingeladen wurden. Und um es vorweg zu nehmen: Boltanskis
       Installation fällt ungemein leicht und heiter aus, selbst wenn er Porträts
       von Unbekannten zeigt, von denen die meisten wohl nicht mehr leben. Hierfür
       griff Boltanski auf seine frühe Arbeit „Menschlich“ zurück, die dem
       Wolfsburger Museum gehört. Damals hatte er aus Fotosammlungen, die
       Personengruppen verschiedenen Alters, Status’ und nationalen Ursprungs
       festhielten, 1.200 Bilder ausgekoppelt. Er hatte sie einheitlich rahmen
       lassen und eine Hänge- und Beleuchtungsordnung erstellt.
       
       Unter den aktuell gezeigten Porträts sind Auszüge seiner Arbeit „Tote
       Schweizer“ – für Boltanski der Phänotyp des normalen Menschen schlechthin
       –, aber auch aus der Serie „Diese Kinder suchen ihre Eltern“: namenlose
       Mädchen und Jungen, die durch Kriegs und Flucht ihre Herkunftsgeschichte
       verloren.
       
       Diesem Gesamtarchiv wiederum entnahm Boltanski 190 Porträts und ließ sie
       auf großformatige transparente Tücher reproduzieren. Die Bildnisse hängen
       jetzt in der 16 Meter hohen Oberlichthalle der Wolfsburger Kunsthalle wie
       Gebetsfahnen von der Decke herab. Einige wehen zwischen den unbewegten
       Tüchern hindurch und erzeugen flüchtige Überlagerungen der Porträtierten.
       Masse und Individuum verschmelzen hier als Geist(er), die uns – so
       Boltanskis Überzeugung – auch nach ihrem Tod begleiten.
       
       Und so rührt die Ausstellung letztlich an elementare Fragen menschlicher
       Abbildungen und an das Recht am eigenen Bild. Aufgrund des deutschen
       Kunsturheberrechtsgesetzes dürfen Bildnisse nur mit Einwilligung des
       Abgebildeten verbreitet oder ausgestellt werden. Nach deren Tod vertreten
       zehn Jahre lang die Angehörigen die Persönlichkeitsrechte des Verstorbenen.
       
       Auch in Boltanskis französischer Heimat bedeutet das Recht des Einzelnen –
       wie des Individuums überhaupt – sehr viel, und deshalb ist sich Boltanski
       seiner Grenzüberschreitungen sehr bewusst. Zurzeit zum Beispiel denkt er
       über die selbst gewählten menschlichen Entäußerungen in digitalen Foren wie
       Facebook nach. Man könne von Millionen von Menschen alles erfahren, eine
       Masse abrufbarer Biographien, sagt er. Ihn interessiere aber das Geheimnis
       des Einzelnen, eine imaginäre Weltfamilie aus Individuen.
       
       ## Glöckchen für die Seelen
       
       Eher emotionales Füllwerk hingehen scheinen die begleitenden Exponate der
       Schau zu sein: die akustische Sammlung von Herzschlägen etwa, die die
       Besucher um ihre eigenen Frequenzen bereichern können. Oder die
       Furin-Windglöckchen, die den im Japangarten verirrten Seelen gewidmet sind.
       
       Boltanski hat sich einmal als sentimentalen Minimalisten bezeichnet. Es
       sieht so aus, als ob mit zunehmendem Alter die Sentimentalität den
       intellektuellen Minimalismus seiner Kunst zu verdrängen schiene.
       
       ## Bis 21. 7. 2013, Kunstmuseum Wolfsburg
       
       9 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bettina Maria Brosowsky
       
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