# taz.de -- Auswanderung in Irland: Die Iren hauen ab
       
       > Irland war lange Emigrationsland, dann stiegen mit dem Wirtschaftsboom
       > die Zahlen der Einwanderer. Mit der Krise stellt sich nun für viele Iren
       > wieder die Frage der Auswanderung.
       
 (IMG) Bild: Wo überall auf der Welt die irischen Flöten tönen, wissen die Iren selbst am besten. Sie wandern wieder aus.
       
       Eigentlich heißt er Anton Balodis. Weil er aus der lettischen Hauptstadt
       kommt, nennen sie ihn in Irland Rigatoni. Er ist groß, hat dunkelblonde,
       glatte Haare und ein weiches Gesicht. Seine ausziehbare Leiter hat er auf
       sein Rad geschnallt, auf dem Gepäckträger klemmen Eimer, Ledertuch und
       Schwamm. Balodis ist Fensterputzer in Dublin. Er ist unverheiratet. Als er
       vor drei Jahren nach Irland kam, war er 25. In Riga hatte er Architektur
       studiert, in Irland mit seinem Bauboom wollte er in seinem Beruf Fuß
       fassen. Das ging ein Jahr gut. Dann platzte die Immobilienblase. Er ist
       dennoch geblieben?
       
       "Ich verdiene als Fensterputzer mehr, als ich in Lettland als Architekt
       bekomme", sagt er in immer noch recht schlechtem Englisch. Wenn er etwas
       nicht versteht, lacht er fröhlich. "Ich habe mir einen Kundenstamm
       aufgebaut und klappere die Straßen nach einem genauen Zeitplan ab. So
       wissen die Leute, an welchem Tag ich jeden Monat zu ihnen komme." Balodis
       ist preiswert, für ein Einfamilienhaus mit zehn Fenstern nimmt er 15 Euro.
       Dennoch kann er seiner Schwester in Riga jeden Monat etwas Geld schicken,
       mal 200 Euro, manchmal auch 300. Die 200.000 polnischen Immigranten haben
       voriges Jahr fast eine Milliarde Euro aus Irland nach Hause geschickt, über
       die Letten liegen keine Zahlen vor.
       
       Die Iren seines Alters hält Balodis für verwöhnt. "Sie sind mit dem Boom
       aufgewachsen", sagt er. "Schlechte Zeiten kennen sie nur aus den
       Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern. Viele hauen einfach ab, wenn sie
       nach dem Studium keinen Job auf ihrem Gebiet finden." Irland hat in den
       vergangenen 20 Jahren eine Berg- und Talfahrt durchgemacht. Zwischen 1994
       und 2001 fiel die Arbeitslosenrate von 16 auf 4 Prozent. Aus dem
       Auswandererland wurde ein Einwandererland, zwischen 2006 und 2008 stieg die
       Einwohnerzahl um ein Viertel. Die meisten Einwanderer kamen aus Polen und
       dem Baltikum.
       
       Nun ist man wieder auf dem Stand von 1990: Die Auswanderung hat die Quote
       von damals erreicht, die Arbeitslosigkeit liegt wieder bei 14 Prozent. In
       den ersten vier Monaten dieses Jahres haben 65.000 Menschen Irland
       verlassen. Die eine Hälfte waren Immigranten, die in ihre Heimat
       zurückgekehrt sind, die andere Hälfte Iren. Irland hat die höchste
       Auswanderungsrate in der Europäischen Union - sie ist fast doppelt so hoch
       wie die des zweitplatzierten Litauen.
       
       Auf nach Kanada 
       
       Als im Oktober die Royal Dublin Society, die 1731 zur "Verbesserung der
       wirtschaftlichen Lage des Landes durch die Förderung von Landwirtschaft,
       Industrie und Wissenschaft" gegründet wurde, eine Messe zu
       Arbeitsmöglichkeiten im Ausland veranstaltete, war der Andrang groß. Vor
       allem in Kanada und in Australien gibt es noch Jobs für Iren - als
       Ingenieure oder Mediziner. Stephen McLarnon, der Organisator der Messe,
       sagt: "In diesem Jahr ist nicht nur die Zahl der auswanderungswilligen Iren
       gestiegen, wir haben auch eine viel breitere demografische Mischung. Die
       meisten gehen nicht freiwillig." Yvonne O'Beirne würde auch lieber bleiben.
       Die 22-Jährige hat in Cork im Süden Irlands Sozialarbeit studiert. "Ich
       hatte nie vor, auszuwandern", sagt sie. "Ich habe meine Abschlussprüfung im
       Frühjahr mit Auszeichnung bestanden und nahm an, dass danach alles seinen
       Gang gehen würde. Seit Mai habe ich mich auf 70 Stellen beworben. Ich bekam
       7 Ablehnungen, die restlichen Arbeitgeber haben nicht mal geantwortet."
       
       O'Beirne, die mit ihren roten Haaren und Sommersprossen aussieht, wie man
       sich eine Irin vorstellt, hat sich sogar mehrfach um einen Supermarktjob
       bemüht und wurde ein paarmal zu Vorstellungsgesprächen eingeladen -
       erfolglos. Rund 100.000 junge Leute mit Universitätsabschluss sind
       arbeitslos. "Ich sehe mich jetzt in England um, später will ich nach
       Australien", sagt sie. "Ich bin sehr enttäuscht, denn ich liebe Irland. Für
       meine Eltern ist es besonders traurig." O'Beirnes drei Jahre älterer Bruder
       Kieran ist bereits vor anderthalb Jahren nach Australien ausgewandert. "Er
       hat in Cork Jura studiert", sagt Mick O'Beirne, der Vater. "Eine Weile hat
       er versucht, eine Stelle zu finden, dann sagte ihm jemand, dass sie in
       Australien Rechtsanwälte suchen. Er lebt jetzt in Perth, allerdings nicht
       als Anwalt, das hat nicht geklappt. Er arbeitet bei einem
       Immobilienmakler." Mick O'Beirne hatte geglaubt, die Emigration gehöre für
       immer der Vergangenheit an.
       
       "Von Cobh, unserem Hafen hier in Cork, wo die "Titanic" 1912 in Richtung
       Amerika ablegte, sind zwischen 1848 und 1950 mehr als zweieinhalb Millionen
       Menschen in die USA gegangen. Denen haben sie ein Emigrationsmuseum
       gebaut", sagt er und fügt sarkastisch hinzu: "Das Denkmal für die heutigen
       Auswanderer steht in Dublin am Flughafen." Er meint die neue 75.000
       Quadratmeter große Abfertigungshalle für 600 Millionen Euro, die nach drei
       Jahren Bauzeit am Freitag in Betrieb genommen wurde. "Wie groß", fragt
       O'Beirne, "stehen die Chancen, dass die Auswanderer zurückkommen? Bis wir
       die 50 Milliarden für die Bankenrettung zurückbezahlt haben, vergehen
       Jahrzehnte. Die Generation, die jetzt auswandert, war noch gar nicht
       geboren, als Emigration zum irischen Alltag gehörte."
       
       Auswanderung ist in Irland ein emotionsgeladenes Thema, denn es bestimmt
       das irische Leben seit 150 Jahren - mit einer kleinen Unterbrechung in den
       vergangenen 20 Jahren. Zur Zeit der Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts
       wanderten jährlich 250.000 Menschen aus, und auch nach der irischen
       Teilunabhängigkeit 1922 riss der Strom nicht ab, weil der junge Staat kein
       Geld hatte, in Arbeitsplätze und Infrastruktur zu investieren. Der
       Freistaat Irland "war, wirtschaftlich gesehen, nicht mehr als die
       Guinness-Brauerei und ein großer Bauernhof", wie die Irish Times einmal
       schrieb. Jedes zweite Kind, das im 20. Jahrhundert in Irland geboren wurde,
       ist später ausgewandert. "Die Sieger schreiben die Geschichtsbücher, die
       Verlierer singen die Lieder", sagt O'Beirne. "Farewell to Erin" ist eines
       von hunderten.
       
       Irland: ein Bauernhof 
       
       "Meine Großmutter erzählte abends oft am Feuer von ihrer Kindheit", sagt
       Pat McNamara. "Sie erinnerte sich an die Trauerfeiern, wenn wieder jemand
       aus ihrem Dorf nach Amerika ging. Es waren regelrechte Totenfeiern,
       Klageweiber wurden gemietet und es gab viel zu trinken, weil man wusste,
       dass man sich nie wiedersehen würde." McNamara ist Bauer in einem Dorf in
       der Grafschaft Clare an der Westküste. Der 49-Jährige ist klein, aber
       kräftig, seine dichten schwarzen Haare hat er bei dem rauen Novemberwetter
       unter einer Kapuze versteckt. "Auf dem Land ist die Jobsituation für junge
       Leute besonders schlimm", sagt er. "Viele Männer haben während des Booms
       auf dem Bau gearbeitet, die Frauen im Einzelhandel. Diese Bereiche liegen
       am Boden. Und mit Landwirtschaft kommst du immer schlechter über die
       Runden.
       
       Die Zuschüsse, vor allem des Umweltprogramms, das eine umweltfreundliche
       landwirtschaftliche Produktion garantieren sollte, sind drastisch gekürzt
       worden." Dadurch werden nicht nur die ökologischen Errungenschaften
       zunichtegemacht, sondern das Einkommen der Bauern ist um fast die Hälfte
       gesunken. In Irland leben zwei Fünftel der Bevölkerung auf dem Land, mehr
       als in anderen EU-Ländern, doch die jungen Leute haben kaum eine Zukunft.
       "Auswandern können sie nicht, da sie schon als Jugendliche auf dem Hof der
       Eltern mitarbeiten mussten und nicht sonderlich gut ausgebildet sind", sagt
       McNamara. "Viele bringen sich einfach um."
       
       Die Suizidrate ist stark gestiegen, es sterben mehr Menschen - vorwiegend
       junge Männer - durch die eigene Hand als durch Verkehrsunfälle. 2009 waren
       es 527 Fälle, das ist fast ein Viertel mehr als im Vorjahr. "Auswanderung
       ist mir nie in den Sinn gekommen", sagt McNamara. "Als ich von der Schule
       abging, lag die Arbeitslosigkeit bei 18 Prozent, viele meiner
       Schulkameraden haben Irland verlassen. Aber die Leute hatten damals
       wenigstens keine Schulden. Heutzutage haben sie Riesenhypotheken und werden
       ihre Häuser zu den Preisen, die sie selbst bezahlt haben, nicht mehr los."
       
       Das hat zu einem neuen Phänomen geführt: In vielen Bauernfamilien ziehen
       die erwachsenen Kinder wieder zu den Eltern, weil sie sich die Hypotheken
       nicht mehr leisten konnten und ihre Häuser unter Wert verkaufen mussten.
       "Das ist eine große Last", sagt McNamara, der selbst keine Kinder hat.
       Bekannte haben nun die Tochter mit Mann und zwei Kindern bei sich wohnen,
       weil der Schwiegersohn seinen Job in Dublin verloren hat. Das ist kein
       Einzelfall. "Was sollen sie tun?", fragt McNamara. "Sie wollen ihnen kein
       Geld abknüpfen, aber müssen sie durchfüttern." "Das Schlimmste ist, wenn du
       nichts zu tun hast und den ganzen Tag vor dich hin grübelst", sagt
       McNamara. Das findet Balodis alias Rigatoni in Dublin auch: "Ich bin
       beschäftigt, habe ein Einkommen und bin den ganzen Tag an der frischen
       Luft. Und die Iren machen mir keine Konkurrenz. Die wandern lieber aus."
       
       23 Nov 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralf Sotscheck
       
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