# taz.de -- Berufsschullehrerin über Pädagogik: „Wir sind nicht feinfühlig genug“
       
       > Es passiert auch pädagogischen Fachkräften, dass sie Kinder seelisch
       > verletzen, sagt die Berufschullehrerin Birte Langhoff. Wichtig sei
       > Reflektion.
       
 (IMG) Bild: Seelische Verletzungen sind nicht auf den ersten Blick sichtbar
       
       taz: Frau Langhoff, Ihre Fachschule lädt zur Diskussion über ‚verletzendes
       Verhalten von pädagogischen Fachkräften‘. Was ist damit gemeint? 
       
       Birte Langhoff: Es geht hier um psychische und seelische Gewalt, die oft
       erst auf den zweiten Blick bemerkt werden. Das kann Beschämung oder
       Diskriminierung sein, es können rassistische Äußerungen sein oder dass man
       bei Übergriffen von Kindern untätig bleibt. Dazu zählen auch Demütigung,
       Ausgrenzung, Ablehnung, Abwertung und Vernachlässigung.
       
       Es heißt im Titel: „Ich wollte dir nie weh tun“? Passiert all das ohne
       Absicht?
       
       Ich glaube schon. Die meisten Menschen, die in pädagogische Berufe gehen,
       haben großes Interesse, gut zu sein für andere Menschen und das gelingt
       Ihnen auch. Doch wenn es zu seelischen Misshandlungen kommt, hinterlassen
       diese häufig auf den ersten Blick keine Spuren. Und doch sind es oft tiefe
       emotionale Wunden.
       
       Haben Sie Beispiele dafür? 
       
       Ja, als ich im Rahmen eines Praxisbesuchs durch eine Krippengruppe ging,
       saß ein Kind auf dem Boden, schrie die ganze Zeit und war wirklich
       verzweifelt. Da wurde ich stutzig, weil ich dachte: Wieso werde ich jetzt
       begrüßt und keiner kümmert sich um dieses Kind? Und wenn dann die
       Erzieherin sagt, „das ist halt immer so, wenn der Bezugserzieher nicht da
       ist, der hört schon irgendwann auf“, dann ist das zwar eine Erklärung für
       sie, aber dem Kind ist damit ja nicht geholfen. Es ruft laut um Hilfe und
       die Menschen ignorieren es und gehen vorbei. Ich schäme mich heute noch,
       dass ich da nicht tiefer in das Gespräch gegangen bin.
       
       Vielleicht verlangt der Beruf, dass man Kinder schreien lässt, weil
       Personal fehlt?
       
       Ja, das wird oft angeführt, auch in Wohngruppen für Kinder und Jugendliche
       hören wir das. Aber das ist meines Erachtens nicht der alleinige Grund. Ich
       denke, wir sind noch nicht feinfühlig genug für diese seelischen
       Verletzungen. Viele sagen: Das hat mir auch nicht geschadet.
       
       Motto: Ich wurde selbst nicht nett erzogen, warum sollen die Kinder es
       besser haben? 
       
       Das könnte auch sein, wie auch alte Denkmuster. Ich höre Sätze wie „Heul
       doch nicht wie ein Mädchen“ oder „Lernst du das nie?“. Wir erleben auch in
       Ausnahmesituationen, dass Kinder zum Essen gezwungen werden.
       
       Darf das eine Kita? 
       
       Nein. Auch das ist schon eine Form von Gewalt. Das gilt auch, wenn Kinder
       nicht gewickelt werden, damit sie lernen, nicht in die Hosen zu machen.
       Oder wenn ein einjähriges Kind einem anderen Kind ein Spielzeug auf den
       Kopf haut und die Fachkraft sagt im lauten Ton: „Geh für fünf Minuten im
       Flur auf die Bank und denk nach, was du gerade getan hast.“ Man muss keine
       Entwicklungspsychologin sein, um zu wissen: Das Kind versteht gar nicht,
       was es falsch gemacht hat und hat auch keine Idee, wie lang fünf Minuten
       sind.
       
       Passiert so was oft? 
       
       Fragen wir in Seminaren, hat jeder so etwas erlebt. Oft ging man über
       solches Verhalten hinweg, weil es einzelne verbale Äußerungen sind und man
       sagt: „Meine Güte, die Erzieherin hat einen schlechten Tag oder ist vom
       alten Schlag.“
       
       Ist das Thema der Erzieher-Ausbildung? 
       
       Ja. Reflexionskompetenz ist sogar ein Schwerpunkt. Was es so schwierig
       macht, ist, dass es mit ganz vielen Gefühlen verbunden ist – wenn man
       selber verletzt, aber auch wenn man verletzt wird. Es ist wichtig, dass wir
       mit den angehenden Fachkräften ihre eigenen Emotionen und die Gefühle
       anderer reflektieren, wie Ohnmacht, Trauer, Wut, Scham und Angst. Alle
       Menschen, mit denen pädagogische Fachkräfte arbeiten, befinden sich mit
       ihnen ja immer in Machtverhältnissen.
       
       Ist nicht manch unwirsche Reaktion menschlich? Müssen Kinder lernen, das zu
       ertragen? 
       
       Das hört man oft. Aber Untersuchungen ergeben, dass es oft nicht bei
       einzelnen Situationen bleibt und es immer wieder die gleichen Kinder trifft
       und ihnen schadet. Deshalb dürfen wir diese Verletzungen nicht tolerieren.
       
       13 Jun 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kaija Kutter
       
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