# taz.de -- Corona-Krise in Lateinamerika: Die Friedhöfe sind voll
       
       > In Guayaquil in Ecuador weiß keiner genau, wie viele Menschen schon an
       > der Virusinfektion gestorben sind. Und alle fragen sich: Wohin mit den
       > Leichen?
       
 (IMG) Bild: Ein PKW und ein Truck transportieren Särge mit Toten auf einer Straße durch Guayaquil
       
       GUAYAQUIL taz | Seit ein paar Wochen steht im Wohnzimmer des Hauses, in dem
       Matilde Montero wohnte, ein neues Möbelstück. Es ist ihr eigener Sarg. Ihre
       Angehörigen haben mehr schlecht als recht versucht, ihn zwischen Tisch und
       Sofa zu verstecken, um nicht jedes Mal zu weinen, wenn sie ihn sehen und
       daran denken müssen, dass sie sie nicht einmal beerdigen konnten. Das
       Coronavirus hat sie getötet, und nun liegt ihr Leichnam in irgendeinem
       Container außerhalb des Friedhofs von Pascuales, zusammen mit den
       Überresten von Hunderten anderen Menschen.
       
       Was klingt wie eine Szene aus einem Horrorfilm, ist Realität in Guayaquil,
       der größten Stadt Ecuadors. Dort zeigt sich ein schreckliches Bild. Tote,
       die in Häusern verwesen oder die sich in Leichenhallen und Containern
       stapeln, viele von ihnen nicht identifiziert, überfüllte Krankenhäuser.
       
       Carla Cobos, die Tochter von Matilde Montero, kann sehr eindringlich
       schildern, wie die Pandemie das Leben hier verändert hat. Seit sich ihre
       Mutter mit dem Coronavirus infiziert hatte, leidet sie darunter, wie
       schlecht das Gesundheitssystem mit den vielen Todesfällen umgeht.
       
       Am 28. Februar 2020 wurde die erste Infektion in Ecuador bekannt gegeben,
       es handelte sich um eine 71-jährige Frau. Diese war am 14. Februar von
       Madrid nach Ecuador gekommen, und bis sie schließlich auf der
       Intensivstation aufgenommen wurde, traf sie viele andere Menschen, war auf
       Familienfeiern. Das Virus verbreitete sich.
       
       Ecuador mit seinen 17 Millionen Einwohnern hat bislang offiziell gut 22.000
       Coronafälle registriert, [1][die zweithöchste Zahl in Lateinamerika nach
       Brasilien]. Gut ein Drittel davon betrifft die Provinz Guayas, deren
       Hauptstadt Guayaquil ist. Bis zum Donnerstag dieser Woche sind offiziell
       560 Menschen an Covid-19 gestorben, bei 1.028 weiteren wird das vermutet.
       Aber die offiziellen Zahlen stimmen nicht mit dem überein, was in den
       Krankenhäusern, der Gerichtsmedizin und auf den Friedhöfen zu beobachten
       ist, auf denen es nicht mehr genug Platz gibt, um alle Toten bestatten zu
       können.
       
       ## Suche zwischen verfaulten Körpern
       
       Guayaquil ist zum mahnenden Beispiel geworden, wie nachlässig mit der
       Gefahr umgegangen wird. Carla Cobos sieht die Schuld bei der Regierung um
       Präsident Lenín Moreno. Wie viele andere macht sie sich in den sozialen
       Netzwerken ihrer Verärgerung Luft.
       
       Auf ihrem Twitter-Account berichtet Carla Cobo über das, was sie seit dem
       Tod ihrer Mutter am 27. März erlebt hat. Ihre Mutter starb mit 72 Jahren an
       Covid-19, in der Statistik taucht sie aber nicht auf. Denn obwohl sie
       positiv getestet wurde, steht im Totenschein lediglich „Atemstillstand
       aufgrund einer bakteriellen Lungenentzündung“.
       
       Wenn Carla Cobos erzählt, wie ihre Mutter am 21. März in ein öffentliches
       Krankenhaus eingeliefert wurde, stockt ihre Stimme immer wieder. Sie hat
       Tränen in den Augen, und sie ist wütend. Weil am 11. März der
       Gesundheitsnotstand im Land ausgerufen worden war und sie ihr Haus nicht
       verlassen durfte, konnte sie nicht bei ihrer Mutter sein.
       
       Carla Cobos blieb nichts anderes übrig, als immer wieder anzurufen, aber
       sie erhielt nur wenige oder gar keine Auskünfte über den Gesundheitszustand
       ihrer Mutter. Und sie erfuhren erst ein paar Tage nach ihrem Tod, dass sie
       gestorben war. Ihr Bruder fuhr dann jeden Tag zum Krankenhaus.
       
       Vor dem Eingang lief ihm der Schweiß über die Stirn, es ist heiß in
       Guayaquil, 34 Grad tagsüber, was auch zeigt, dass dem Coronavirus Hitze
       nichts auszumachen scheint. Er musste immer wieder fragen, und nach ein
       paar Tagen ließ man ihn gegen ein kleines Bestechungsgeld ins
       Leichenschauhaus. Zwischen den verfaulten Körpern, die wahrscheinlich alle
       mit dem Virus kontaminiert waren, suchte er nach dem seiner Mutter.
       
       „Das ist alles völlig außer Kontrolle geraten“, sagt Luis Sarrazín, Arzt
       und ehemaliger Gesundheitsminister Ecuadors. Er glaubt auch den offiziellen
       Todeszahlen kein bisschen, sie bilden seiner Ansicht nach nur einen
       minimalen Teil der Katastrophe in Guayaquil ab.
       
       Allein am 30. und 31. März zählte das Melderegister 722 Sterbefälle in der
       Provinz Guayas, normalerweise gibt es hier im Durchschnitt nicht mehr als
       50 am Tag. In der ersten Aprilhälfte gab es 6.703 Sterbefälle.
       Normalerweise sind es in diesem Zeitraum 1.000. Was die Todesursache ist,
       ist schwer zu sagen, denn laut dem Generaldirektor des
       Gerichtsmedizinischen Dienstes des Landes können die allermeisten Toten
       nicht obduziert werden, man schafft es einfach nicht. Auch Coronatests
       werden an den Verstorbenen nicht durchgeführt.
       
       Wer jetzt mehr zu tun hat als sonst, sind die Bestattungsunternehmen, die
       deutlich mehr Särge verkaufen.
       
       Die Häufung von Todesfällen hat die ganze Stadt in ein Leichenschauhaus
       verwandelt. Weil die Krankenhäuser überfüllt sind, sterben manche Menschen
       zu Hause. Einer von ihnen war Tomás Tumbaco, der am frühen Morgen des 22.
       März dahinschied. Er hatte Husten, Fieber und Atemprobleme.
       
       Seine Angehörigen bedeckten den Leichnam mit einem rosa Tuch. Immer wieder
       wählten sie die Notrufnummer, erfolglos zunächst, erzählt seine Tochter
       Clarisa Tumbaco. Es fing an zu stinken. Erst nach drei Tagen konnten sie
       den Leichnam abholen lassen. Bei anderen Familien dauerte es sogar 10 Tage.
       
       Selbst durften sie die Leiche nicht wegbringen, denn eine Vorschrift des
       Gesundheitsministeriums besagt, dass das von medizinischem Personal gemacht
       werden muss, wenn Coronaverdacht besteht. Die Leiche muss dann eingeäschert
       werden. Aber diese Regel wird in vielleicht nur der Hälfte der Fälle
       beachtet.
       
       ## Ein „würdevolles Begräbnis“?
       
       In Guayaquil gibt es drei Krematorien, die jeweils bis zu acht Leichen in
       24 Stunden verbrennen können. Das reicht nicht. Also werden auch
       Bestattungen ohne die entsprechenden Standards durchgeführt. Und mache
       Menschen waren offenbar so verzweifelt, dass sie die Leichen ihrer
       verstorbenen Angehörigen einfach auf dem Bürgersteig ablegten.
       
       Aus diesem Grund erklärte die nationale Katastrophenschutzbehörde Guayas am
       23. März zu einem besonderen Notstandsgebiet. Der Verteidigungsminister
       kündigte die Einrichtung einer Taskforce an, die sich um die Bergung der
       Leichen kümmern sollte. Nachdem es in den sozialen Netzwerken viel Aufruhr
       gegeben hatte, kam das Versprechen: Alle Toten sollen ein „würdevolles
       Begräbnis“ bekommen.
       
       Aber was genau soll das heißen? Ecuador ist ein sehr religiöses Land.
       Traditionell wird hier in der katholischen Kirche ein Verstorbener
       mindestens 24 Stunden aufgebahrt, und es wird eine Messe abgehalten. Doch
       seit Beginn des Notstands im März haben die Kirchen ihre Türen geschlossen.
       
       Wie Carla Cobos sind auch andere Verwandte seit Wochen auf der Suche nach
       dem Aufenthaltsort ihrer verstorbenen Angehörigen. Wenn schon keine
       Totenwache möglich ist, wollen sie zumindest, dass die Toten identifiziert
       und bestattet werden. Aber selbst das ist in Ecuador derzeit nur schwer zu
       erreichen.
       
       Die Stadtverwaltung von Guayaquil kündigte kürzlich an, dass zwei neue
       Friedhöfe gebaut werden sollen. Auf denen, die es schon gibt, werden
       derzeit drei- bis viermal so viele Tote bestattet wie vor der Pandemie.
       
       ## Ruhiger als auf dem Friedhof
       
       Am selben Tag forderte Präsident Lenín Moreno die Bevölkerung von Guayaquil
       auf, „mehr Verantwortung“dafür zu übernehmen, dass die
       Mobilitätsbeschränkungen eingehalten werden. Es gibt eine Ausgangssperre
       von 14 bis 5 Uhr morgens und Beschränkungen für den Autoverkehr, die aber
       jeden Tag weniger beachtet werden.
       
       Die Regierung hat auch die Hauptstadt Quito im Blick, wo die Zahl der
       Corona-Infektionen zwar niedriger ist – offiziell 856 am 22. April –, aber
       sie befürchtet, auch hier werde sich die Lage bald zuspitzen. Auch weil es
       den Leuten immer schwerer fällt, zu Hause zu bleiben.
       
       Besonders schwer ist es für die Menschen, die im informellen Sektor
       arbeiten. Das sind in Ecuador nach offiziellen Zahlen 3,6 Millionen. Für
       Menschen, die von der Hand in den Mund leben, bedeutet Quarantäne, dass sie
       nichts mehr zu essen haben.
       
       Dies zeigt sich im Stadtzentrum, das in den ersten Tagen der Ausgangssperre
       völlig unbewohnt wirkte. Die asiatischen Betreiber von Geschäften hatten
       ihre Läden zuerst geschlossen, weil die Angst vor dem Virus in Rassismus
       umschlug. Der Manager eines Chinarestaurants erzählt, dass er bereits vor
       Ausrufung des Notstands die Hälfte seiner Kunden verloren hatte. Im Zentrum
       war es dann ruhiger als auf dem Friedhof. Nur ein Dutzend Bettler
       schwärmten über die Plaza San Francisco und warteten darauf, dass jemand
       Mitleid mit ihnen hätte. Denn, so berichtet einer von ihnen: Von den
       Behörden bekommen sie keinerlei Hilfe.
       
       Aber einen Monat nach Beginn der Isolation sind wieder Händler im Zentrum
       unterwegs, auf der verzweifelten Suche nach Kundschaft. Sie habe
       schrecklich Angst vor einer Ansteckung, sagt eine Schuhputzerin, die einen
       rosa Mundschutz trägt. Aber noch mehr Angst macht ihr der Gedanke, dass
       ihre Kinder hungern müssen.
       
       Gelitza Robles ist Reporterin der Zeitung „Diario Extra“ in Guayaquil. Der
       Text wurde aus dem Spanischen übersetzt von Sebastian Erb.
       
       25 Apr 2020
       
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