# taz.de -- Corona in Norditalien: Allen geht die Luft aus
       
       > Die Kleinstadt Alzano Lombardo liegt im Epizentrum der Epidemie in
       > Italien. Sanitäter entscheiden über Leben und Tod
       
 (IMG) Bild: Brescia, Norditalien. Krankenpflege im Ausnahmezustand
       
       ALZANO LAOBARDO taz | „Siehst du? Siehst du?“, fragt ihn seine Frau und ihr
       Blick hellt sich nach elf Tagen endlich auf. „Du kommst ins Krankenhaus!
       Bist du froh?“ Antonio Amato, 40 Jahre alt, liegt fast reglos auf dem Sofa
       im Wohnzimmer und umklammert seine Sauerstoffflasche. Früher rief man die
       118 an und hoffte, dass der Arzt kommt, der einem sagt, man habe nichts
       Schlimmes und könne zu Hause bleiben. Heute bringen sie dich als Notfall
       ins Krankenhaus, und du fühlst dich, als hättest du einen Sechser im Lotto
       gewonnen: einen Platz auf der Intensivstation.
       
       Amatos zwei Söhne, in Isolation in ihrem Zimmer, kommen heraus und winken
       zum Abschied von der Türschwelle. Über dem Mund tragen sie ein Plüschtier
       als Maske.
       
       Alzano Lombardo ist die röteste Zone dieses Italiens in Quarantäne, wo es
       (Stand Freitag) 41.035 Infizierte und 3.405 Tote gibt. Um Panik zu
       vermeiden, schalten die Krankenwagen keine Sirenen mehr ein, sondern nur
       Blaulicht. Die Straßen sind verlassen; lediglich die Kleintransporter der
       Bestattungsunternehmen sind unterwegs.
       
       Wir befinden uns nicht weit von Bergamo, einer Region mit 10 Millionen
       Einwohner*innen, wo es nach Aussage ihres Sozialreferenten Giulio Gallera
       am Donnerstag in den Krankenhäusern zwischen neuen Einlieferungen und
       Entlassungen, entweder direkt nach Hause oder auf den Friedhof, auf den
       Intensivstationen nur noch 10 freie Betten gab.
       
       ## Kein Bett, Kein Sauerstoff
       
       Aber hier, wo alles begonnen hat und sie dem Rest des Landes und Europa
       zwei Wochen voraus sind, sind nicht nur alle Betten aus, sondern auch der
       Sauerstoff. Während seines letzten Nachtdienstes erhielt der Apotheker
       Andrea Raciti 42 Anfragen, am Ende hatte er keine einzige Sauerstoffflasche
       mehr.
       
       Wer zu Hause liegt, für den ist Paracetamol das Heilmittel. Und eine
       Portion Glück.
       
       Im Krankenwagen des Roten Kreuzes stammen die Atemschutzmasken an diesem
       Tag von einer Zahnärztin, der Mutter des jüngsten freiwilligen Helfers
       Sergio Solivani. Er ist 21 Jahre und studiert Philosophie, derzeit ein
       nützliches Fach, geht es doch nicht darum, wie man einschreiten, sondern ob
       man einschreiten soll. Und das ist nicht nur eine medizinische, sondern
       auch eine moralische Frage. „Vor allem bei den ganz Alten“, sagt Solivani.
       
       ## Der Name in den Todesanzeigen
       
       Die Alten sind am stärksten und am härtesten betroffen, das weiß man. „Sie
       einzuliefern ist oft das größere Übel. Denn im Krankenhaus sind Besuche
       verboten, sie sind sich selbt überlassen, inmitten von Unbekannten“, sagt
       Solivani. „In einem Fall haben wir lange überlegt, zusammen mit der
       Zentrale und den Ärzten, dann haben wir uns für den Transport ins
       Krankenhaus entschieden. Zwei Tage später tauchte der Name der Frau in den
       Todesanzeigen auf. Sie ist wohl sofort gestorben. Vielleicht während sie
       noch auf die Aufnahme wartete. Und ich habe gedacht: Hoffentlich hat sie
       wenigstens ein Glas Wasser bekommen.“
       
       „Nicht Sauerstoff“, sagt er und senkt den Kopf. „Aber etwas Wasser.“
       
       Sie sind allein, und in manchen Fällen lässt man sie auch allein. „Gestern
       waren wir bei dieser alten Frau“, sagt Solivani, „total hinfällig, nur Haut
       und Knochen. Sie hat eigentlich eine Altenpflegerin, aber die lag mit
       Fieber bei sich zu Hause. Der Ehemann stand in der Tür, verwirrt, nahezu
       blind, nicht mehr in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Wir haben uns
       gefragt: Und was ist mit ihm? Wir retten die einen und schaden den
       anderen.“
       
       Nicht alle haben einen Sohn in der Nähe wie die 87-jährige Teresina Varesi,
       die Schwierigkeiten beim Atmen hat. Und Fieber. Schmerzen im Brustkorb. Es
       sei schwer, rauszukriegen, was sie hat, weil sie nicht klar genug sei, sich
       zu erklären, sagt Lujan, die südamerikanische Pflegerin. Trotz Angst wacht
       sie Tag und Nacht bei ihr, eingemummt und ausgerüstet mit
       Desinfektionsmitteln. Sie könne doch jetzt nicht weggehen, sagt sie,
       außerdem lebe ihre Familie in Bolivien von ihrer Unterstützung. Sofort
       desinfiziert sie den Stift, mit dem sie ihren Namen notiert hat.
       
       ## Im Halbschatten unter einer Madonnenfigur
       
       Der Sohn von Teresina Varesi hilft der Belegschaft vom Roten Kreuz, das
       Bett seiner Mutter frisch zu machen, ohne dass sie dabei die Knochen
       bricht, so zierlich ist sie. Und wie alle Söhne kapituliert er nicht so
       schnell: Während sie im Halbschatten des Zimmers da liegt, unter einen
       Madonnenfigur, nach Luft ringend, versucht er noch, sie bei sich zu Hause
       zu behalten, und sagt: Vielleicht ist es bloß eine Erkältung.
       
       Andererseits: Das nächste Krankenhaus wäre das Niguarda in Mailand. Das
       Krankenhaus in Alzano Lombardo nimmt niemanden mehr auf, viele Ärzte und
       Pfleger*innen sind selbst infiziert oder krank. Im Moment kommt niemand
       rein und niemand raus. Auch die anderen Krankenhäuser in der Region sind
       voll.
       
       Wieder auf der Straße, schält sich die Belegschaft aus den weißen
       Schutzanzügen. Dann sind die Handschuhe dran, die Atemschutzmaske. Sie
       desinfizieren alles, Zentimeter für Zentimeter, dem Letzten wird vom Ersten
       geholfen, der dann erneut die Handschuhe wechseln muss: eine Art Domino.
       Wie soll man sich desinfizieren, wenn auch das Desinfektionsmittel
       infiziert sein kann?
       
       Aus den Fenstern der Häuser ängstliche Blicke. Wer wird der Nächste sein?
       
       Trotzdem, das Nachprüfen der Handynetze hat ergeben, dass selbst in der
       Lombardei, im Epizentrum der Krise, 40 Prozent der Bevölkerung gegen die
       Quarantänebestimmungen verstoßen und nicht zu Hause bleiben. Noch immer
       behaupten viele, die Toten seien eben sehr alt gewesen. Oder hätten
       Vorerkrankungen gehabt, sie seien folglich an etwas anderem gestorben.
       
       ## Das Gesundheitssystem kollabiert
       
       In gewisser Hinsicht verhält es sich andersherum: Wer jetzt an einer
       Vorerkrankung stirbt, der stirbt in Wirklichkeit an Covid-19, der stirbt
       durch ein kollabierendes Gesundheitssystem, auch wenn das der Lombardei zu
       den besten Italiens gehört.
       
       Die Gründe für die hohe Todesrate sind auch sozialer Natur: Italien hat
       ähnlich wie Deutschland ein sehr hohes Durchschnittsalter, und gerade im
       ländlichen Raum leben besonders viele alte Menschen, die Jungen sind
       weggezogen in die Städte. Dennoch leben Familien oft weiterhin in mehreren
       Generationen zusammen oder zumindest nah beieinander, denn die Alten
       kümmern sich um die Enkel und umgekehrt. Das macht es mit der Isolation
       schwierig.
       
       Romano Lugli, 89 Jahre alt, ist eigentlich bloß im Flur ausgerutscht. Die
       Tochter, sein einziges Kind und selbst kinderlos, hat eine
       Leberkrebsoperation hinter sich und ist physisch wie psychisch völlig am
       Ende. In diesen Tagen gibt es keine Chance auf häusliche Unterstützung,
       trotzdem hat sie darum gebeten. Und während sie jetzt hofft, dass ihr Vater
       im Krankenhaus aufgenommen wird, läuft sie nervös im Wohnzimmer auf und ab
       und fragt: „Es ist doch besser so? Oder irre ich mich?“
       
       Die Sanitäter versuchen ihr zu sagen, dass ihr Vater nur die Prellung habe
       und eben alt sei. Und dass sich sein Zustand im Krankenhaus eher
       verschlechtern könnte. Aber sie ist erschöpft, neben der Spur, in Tränen
       aufgelöst – um 19.50 Uhr hat sie den Notruf gewählt, drei Stunden später
       ist der Notarztwagen eingetroffen. „Was glaubst du“, fragt sie immer
       wieder, „es ist doch besser so, oder?“ Instinktiv will einer der Helfer sie
       in den Arm nehmen. „Entschuldigung, das darf ich nicht“, sagt er, hält
       inne, seinen Arm ausgestreckt in der Luft.
       
       Als der Vater schon fast im Treppenhaus ist, fertig zum Abtransport auf
       eine Bahre geschnallt, kommt der Moment, in dem sie ihr sagen müssen, dass
       sie nicht mit ins Krankenhaus kann. Für jemanden, der gerade eine
       Krebsoperation hinter sich habe, könne die Ansteckung tödlich sein.
       
       „Vielleicht... Ja, vielleicht... Haben Sie auch nichts vergessen?“, murmelt
       einer aus dem Team, im Versuch, die richtigen Worte zu finden. „Gibt es
       etwas, was Sie ihm noch sagen wollen?“ Sie weiß nicht, wo sich seine
       Gesundheitskarte befindet. „Wo ist sie? Papa! Du und deine Unordnung“, sagt
       sie und fängt an, hektisch in den Schubladen zu wühlen. Niemand traut sich,
       ihr zu sagen, dass dies eines Tages die Erinnerung an ihr letztes Gespräch
       mit ihrem Vater sein könnte. Wo ist die Gesundheitskarte?
       
       ## Eine Qual für alle
       
       35 Minuten musste Andrea Travelli auf die Ambulanz warten, eine Ewigkeit
       bei Notfällen. Travelli ist 60 Jahre alt, seit einer Woche hat er hohes
       Fieber und nichts als Paracetamol im Haus. „Es hilft nicht,“ sagt sein
       Schwiegersohn und betont jedes Wort, damit ihm die Stimme nicht bricht,
       „das Fieber geht nicht runter.“
       
       Denn es verhält sich nicht so wie bei diesen berühmten Persönlichkeiten,
       die das Virus haben und sich dann beeilen, per Facebook Videos ins Netz zu
       stellen, die zeigen, dass es sich bloß um ein bisschen Husten zu handeln
       scheint, der sich mit etwas Milch und Honig behandeln lässt. „Einen Kranken
       zu Hause zu haben ist eine Qual“, sagt Travellis Schwiegersohn, „eine Qual
       für alle.“
       
       Mehr muss er nicht sagen, jetzt, wo die Krankenwagen die Sirenen
       ausgeschaltet haben und nächtliche Ruhe eingekehrt ist. Hier und da spürt
       man die Aufregung einer Familie, die im Dunkeln wach wird, man sieht, wie
       die Lichter angehen, eins nach dem anderen: ein Sohn, ein Bruder, der
       Atemnot hat. Und Panik. Denn dann kommt der Moment, nicht einmal, sondern
       viele Male: der Moment, in dem man sich entscheiden muss.
       
       „Für uns, die als Erste da sind, ist das schwierig“, sagt Samantha Cortesi,
       seit 45 Jahren beim Roten Kreuz. „Wir sind gewohnt, einen Patienten zu
       stabilisieren. Wenn wir kommen, stellen wir normalerweise das Nötigste fest
       und dann geht's ins Krankenhaus. Aber jetzt müssen wir entscheiden,
       Krankenhaus ja oder nein, und zwar binnen wenigen Minuten“, sagt sie, bevor
       sie mit der nötigen Feinfühligkeit den Töchtern von Andrea Travelli
       erklärt, dass es in diesem Moment für den Vater im Krankenhaus gefährlicher
       sein könnte als zu Hause, wo es nur Paracetamol gibt. „Er wird es
       überstehen“, versucht sie die Töchter zu beruhigen. „Zumindest atmet er,
       wenn er nicht hustet.“
       
       „Unter normalen Umständen“, erklärt Samantha Cortesi hinterher, „hätten wir
       ihn in die Notaufnahme gebracht, keine Frage. Aber in der jetzigen
       Situation, so dramatisch es sein mag und auch wenn man es uns für immer
       übel nehmen wird, haben wir die Verpflichtung, sie zu warnen, es könnte
       sein, dass ihr euren Angehörigen erst als Toten wiederseht.“
       
       „Schlimmer noch“, sagt sie. „Sie haben sogar die Beerdigungen ausgesetzt.
       Nicht einmal als Toten wollen sie dich.“
       
       Übersetzung aus dem Italienischen von Sabine Seifert
       
       20 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Francesca Borri
       
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