# taz.de -- Die Oase der Lilien
       
       > ZWEITE LIGA Darmstadt 98 wirkt mit seinem Stadion, dem Böllenfalltor, und
       > der Vereinsphilosophie wie aus der Zeit gefallen. Gut so!
       
       AUS DARMSTADT TIMO REUTER
       
       Wir schreiben das Jahr 52 nach Gründung der Fußballbundes-Liga. Die
       Fußballwelt wird vom Geld beherrscht und von Eventmanagern. Die ganze
       Fußballwelt? Im Süden Hessens liegt ein Dorf, wo alles etwas anders ist.
       Zumindest scheint es so.
       
       Dieses Anderssein hat hier in Darmstadt eine lange Tradition. Schon als die
       „Lilien“ im Jahre 1978 das erste Mal in die Fußball-Bundesliga aufstiegen,
       waren sie sozusagen das gallische Dorf des deutschen Profifußballs: Da die
       Spieler nicht bereit waren, ihre Berufe als Lehrer, Ingenieur oder Metzger
       aufzugeben, trainierten sie eben nach Feierabend. Weil das bereits Ende der
       70er Jahre anachronistisch war, gingen die Hessen als „Darmstädter
       Feierabendfußballer“ in die Geschichtsbücher ein.
       
       Nachdem der Verein zwischenzeitlich aufgrund mehrerer Abstiege in der
       Versenkung verschwunden war, schreibt Darmstadt 98 derzeit wieder
       Geschichte. Vor anderthalb Jahren waren die Lilien sportlich bereits aus
       der dritten Liga abgestiegen und schafften den Klassenerhalt nur, weil
       Kickers Offenbach keine Lizenz erhielt. Was danach folgte, ist
       bemerkenswert. Erst der Aufstieg in die Zweite Liga mit einem
       Last-Minute-Tor in der Relegation, dann die unglaubliche Hinrunde in Liga
       zwei, die die Darmstädter dank eines einsatzfreudigen und laufintensiven
       Fußballs auf einem Relegationsplatz beendeten – diesmal mit Aussicht auf
       die erste Bundesliga. Heute wollen sie diesen Platz im Spiel gegen Aalen
       sichern.
       
       Es ist das, wovon jeder Fan träumt, ein kleines Fußballmärchen über einen
       Underdog, der es mit bescheidenen Mitteln zu großem Erfolg bringt. Die
       Hessen haben mit rund fünf Millionen Euro einen der kleinsten Etats der
       zweiten Liga – im Gegensatz zum Mitaufsteiger aus Leipzig etwa; der
       Red-Bull-Klub hat das Siebenfache zur Verfügung. Das Ziel zu Saisonbeginn
       konnte also in Darmstadt nur der Klassenerhalt sein. Nun stehen sie auf dem
       dritten Platz, vier Zähler vor Leipzig. Doch an der Zielsetzung wollen sie
       nichts ändern, darauf besteht Dirk Schuster, der die Darmstädter seit zwei
       Jahren trainiert. Der Mann mit dem blauen Kapuzenpulli und dem Fünftagebart
       sitzt in der alten Vereinskneipe, die nun zum Presseraum umfunktioniert
       wurde. Vieles hier ist improvisiert und unfertig. „Der sportliche Erfolg
       hat den Verein überrannt“, sagt der ehemalige Bundesligaprofi. Der
       47-Jährige ist ein bodenständiger Trainer, ein Mahner, der stets daran
       erinnert, dass es im Fußball schnell bergab gehen kann. Diese Funktion hat
       er auch in Darmstadt, wo es momentan aber nur bergauf zu gehen scheint.
       
       ## Kalt duschen
       
       „Um dauerhaft Profifußball zu spielen, brauchen wir bessere Bedingungen“,
       sagt der Trainer. Weil der einzige Trainingsplatz derzeit einem Acker
       gleicht, muss der Verein Ausweichplätze suchen. Da kommt es vor, dass
       montags nicht klar ist, wo am Dienstag trainiert wird. Oder dass die
       Mannschaft Dauerlauf auf der Straße machen muss, weil der Platz nicht vom
       Schnee geräumt wurde. Direkt neben dem Trainingsplatz liegt am Waldesrand
       das altehrwürdige Böllenfalltor. Der morbide Charme des 1921 eingeweihten
       Stadions ist im heutigen Profifußball nahezu ausgestorben. Vor der Saison
       wurde das Böllenfalltor aufgrund von Lizenzauflagen zwar notdürftig
       renoviert – aber noch immer wirkt es wie aus der Zeit gefallen. Der Beton
       bröckelt vor sich hin, ein kühler Wind pfeift durch die Wellenbrecher einer
       der größten Stehplatzkurven der Republik. Hier finden mehr als 12.000 Fans
       unter freiem Himmel Platz, es ist ihr Wohnzimmer, ein nostalgischer Ort,
       der daran erinnert, dass Fußball einst bloß Fußball war. Die rauen
       Bedingungen bekommt auch die Mannschaft von Darmstadt zu spüren: Wegen
       Problemen mit der Warmwasserversorgung müssen die Spieler auch im Winter
       manchmal kalt duschen.
       
       „Alles ist uralt, das Stadion, das Trainingsgelände, sogar die
       Massagebänke. Das einzig Neue ist die Sauna, die ist erst 20 Jahre alt“,
       sagt Dirk Schuster und beginnt herzhaft zu lachen. Trotz aller
       Bescheidenheit, sie haben Grund zur Freude in Darmstadt – und spielen mit
       den Klischees: „Feierabendfußballer gibt es hier keine mehr, inzwischen
       sind alle Spieler Vollprofis.“
       
       ## „Eine Trotzreaktion“
       
       In Darmstadt haben sie aus der Not eine Tugend gemacht, indem alle ein
       Stück enger zusammengerückt sind. Als die Lilien 2008 Insolvenz anmeldeten,
       haben Anhänger und Sponsoren den Verein durch Spenden gerettet. Derzeit
       halten über 100 Ehrenamtliche den Betrieb am Laufen, sie putzen bei
       Heimspielen die Tribüne, unterstützen den Presseauftritt oder arbeiten als
       Chauffeur. Als die Mannschaft Ende Januar aus dem Trainingslager in der
       Türkei zurückkehrte, holten Helfer die Spieler vom Frankfurter Flughafen
       ab.
       
       Viele Darmstädter Geschichten klingen, als würden sie einem Dorfverein
       entstammen. Doch während sich die gegnerischen Mannschaften am
       Böllenfalltor noch über amateurhafte Bedingungen wundern, nutzen die Lilien
       die Gunst der Stunde. „Es ist auch eine Trotzreaktion auf unsere
       schlechteren Bedingungen, wir krempeln die Ärmel hoch und sind ein
       eingeschworenes Team“, sagt Schuster. Einsatz, Disziplin und der gemeinsame
       Glaube an den Erfolg als Außenseiter sind das Rezept des Darmstädter
       Zaubertranks, der den Lilien derzeit Kräfte verleiht. Und der Spielern wie
       dem Top-Torjäger Dominik Stroh-Engel zu neuem Glanz verhilft, die Schuster
       für schmales Geld gekauft hat, weil sie kein anderer Klub wollte.
       
       Darmstadt 98 ist zum Sehnsuchtsort im modernen Fußball geworden. Dort, wo
       überall nach dem Kult gesucht wird, dem Unberührten, das Fans so sehr
       lieben. In Darmstadt werden sie fündig, bei einem Verein, der anders ist.
       Hier gibt es gibt keine VIP-Eingänge, die Spieler kommen vor dem Spiel
       durch den Haupteingang ins Stadion, vorbei an den Zuschauermassen und den
       Bratwurstverkäufern.
       
       Doch auch hier soll sich einiges ändern. Das Böllenfalltor wird in den
       nächsten Jahren für über 27 Millionen Euro komplett umgebaut. Vom alten
       Charme wird dann nicht mehr viel übrig sein, zumindest nicht optisch.
       
       Die Professionalisierung soll auch im Süden Hessens Einzug halten –
       gleichzeitig wollen sie ihre „Oase im immer steriler werdenden Profifußball
       bewahren“, wie Dirk Schuster sagt. Es ist eine Gratwanderung mit ungewissem
       Ausgang.
       
       6 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) TIMO REUTER
       
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