# taz.de -- Eine Woche nach russischer Invasion: Kiew gibt nicht auf
       
       > Trümmer von Raketen liegen auf der Straße, es fehlt an Medikamenten und
       > Lebensmitteln. Szenen aus der ukrainischen Hauptstadt.
       
 (IMG) Bild: Mit Gewehr im Schlafzimmer: Pjotr Vyerko lebt in Gorenka, am Stadtrand von Kiew
       
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       KIEW taz | Vor genau einer Woche hat die russische Großinvasion in die
       Ukraine begonnen. Vor sieben schrecklichen Nächten. Einige verbringen jede
       Nacht in Luftschutzeinrichtungen. Andere versuchen, das Land zu verlassen.
       Am Donnerstag gab es die ersten offiziellen Zahlen: Bereits eine Million
       Menschen sind laut UN [2][mittlerweile in EU-Staaten geflohen]. Frauen mit
       Kindern versuchen es mit Autos, Bussen, Zügen oder zu Fuß. Die Menschen in
       staatlichen Einrichtungen probieren, so gut es geht zu helfen und Leben zu
       retten.
       
       In dieser einen Woche hat sich Kiew stark verändert. Diese noch vor Kurzem
       lebendige und dynamische Stadt, die von vielen gar als „neues Berlin“
       gesehen wurde, hält jetzt den Atem an. Nur der Luftalarm dröhnt Tag und
       Nacht. Mit Beginn der Sperrstunde um 20 Uhr versinkt die Stadt in völliger
       Dunkelheit. In den leeren Straßen kann man dann nur noch die Kämpfer der
       Territorialverteidigung antreffen, die auf der Suche nach Saboteuren sind.
       
       Alle Menschen, die ohne Sondergenehmigung unterwegs sind, werden
       automatisch als Saboteure angesehen und getötet. Darum gibt es auch an
       allen Ausfahrts- und Zufahrtsstraßen Kiews sowie auf den innerstädtischen
       Straßen Tag und Nacht provisorische Straßensperren. Streng und gründlich
       werden alle Autos kontrolliert.
       
       Am Dienstagabend flogen wieder russische Raketen auf das Stadtzentrum von
       Kiew. Ganz offensichtlich war das Verteidigungsministerium das Ziel, aber
       die ukrainische Luftabwehr hat diese Raketen abgeschossen. Die Trümmer der
       Raketen sind jedoch in der Nähe des Kiewer Hauptbahnhofs heruntergekommen.
       Zwar wurde der Zugverkehr nicht behindert, aber die Menschen haben sich
       sehr erschrocken. Es waren nicht die einzigen Explosionen der vergangenen
       Nacht, die in Kiew zu hören waren.
       
       Zerstörte Wohnungen 
       
       In Richtung Belarus an den nördlichen Zufahrtsstraßen nach Kiew wurde die
       ganze Nacht gekämpft. Die kleinen Vorstädte Hostomel, Butscha und Irpin
       werden weiter durch die russische Armee dem Erdboden gleichgemacht. „Ich
       weiß nicht mal, ob mein Haus, meine Wohnung überhaupt noch existiert. Seit
       der Evakuierung habe ich keinen Kontakt mehr zu meinen Nachbarn“, schrieb
       mir eine Bekannte, die sich erst vor Kurzem eine Wohnung in einer
       gemütlichen Wohnanlage in Butscha gekauft hat. Ein anderer Bekannter hatte
       weniger Glück, seine Wohnung wurde durch russische Raketen zerstört. Das
       geschah erst vor ein paar Tagen, als er seine Frau und sein Kind in
       Richtung Polen begleitete.
       
       „Gestern schrieb mir mein Patensohn aus seinem Haus in Kiew, dass er sich
       einen Hund wünscht, einen Schnauzer. ‚Ich möchte unbedingt, unbedingt einen
       haben.‘ Das war das erste Mal, dass ich in der letzten Woche weinen
       musste“, erzählt die Journalistin Anna Tschornous, die die letzten Nächte
       im Luftschutzraum verbracht hat. In Kiew gibt es jetzt statt Nachtleben nur
       noch Leben im Untergrund.
       
       In seiner Morgenansprache hat der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko wie
       üblich die Menschen seiner Stadt gelobt und bestärkt, dass sie wieder
       todesmutig eine Nacht überstanden hätten. „Die Lage ist schwierig, aber
       unter Kontrolle“, betonte er. Niemand ist gestorben, niemand wurde bei den
       nächtlichen Angriffen verletzt. Vor dem Hintergrund der Berichte, die jetzt
       aus Charkiw und Mariupol kommen, sind das ziemlich gute Nachrichten.
       
       Es gibt immer noch nicht genügend Lebensmittel und Medikamente, aber
       morgens ist es mir gelungen, frisches Brot, Butter und ein bisschen
       Trinkwasser zu bekommen. Auch das sind gute Nachrichten. In der Stadt gibt
       es auch immer noch Strom, Heizung, Wasserversorgung und Internet. Wären
       keine russischen Raketen am Himmel und Panzer auf den Zufahrtsstraßen,
       könnte man denken, es sei alles wie gewöhnlich. Um das Problem mit dem
       Mangel an Medikamenten kümmern sich jetzt neben der Stadtverwaltung auch
       Freiwillige. Einige Apotheken bitten alle, die können, in die Läden zu
       kommen, und selber Medikamente auszugeben, weil viele Apotheker
       mittlerweile ebenfalls die Stadt verlassen haben.
       
       Die Kiewerin Ludmilla Jankina, der selbst dringend benötigte Medikamente
       fehlen, hat in Eigenregie ein Koordinationszentrum eingerichtet. Sie hat
       selber Medikamentenlisten erstellt, hat verschiedene Lager in ganz Kiew
       abtelefoniert und unter dem Geheul der Alarmsirenen fährt sie durch die
       Stadt, um Medikamente einzusammeln, die sie später an Bedürftige weiter
       verteilt.
       
       Kiew wird zur Festung 
       
       „Wer Raketen auf deine Stadt schießt, ist ein absoluter Psychopath, und man
       versteht schon, dass es hier überhaupt keinen sicheren Ort mehr gibt“, sagt
       sie. Trotzdem konnte sie heute alle Medikamentenwünsche, die sie von
       Krebspatienten, kranken Kindern und älteren Menschen bekommen hatte,
       erfüllen. Eine alte Frau mit Diabetes, grauem Star und schlechtem Gehör,
       die fast alleine in einem neunstöckigen Gebäude zurückgeblieben war, ist
       ihr dabei besonders im Gedächtnis geblieben. Sie lebte im siebten Stock,
       Aufzug und Gegensprechanlage waren außer Betrieb.
       
       Kiew ähnelt mehr und mehr einer Festung. Jeder versucht, sich so gut wie
       eben möglich zu schützen, bereitet sich aber auch darauf vor, sich notfalls
       zu wehren. Die Schlangen für die Aufnahme in die Territorialverteidigung
       werden nicht kleiner, geduldig warten Tausende Männer und Frauen in den
       Mobilisierungszentren. Zehntausende Freiwillige haben schon Waffen
       erhalten.
       
       Aktivist Kostja erzählt von seiner Erfahrung in der Terrorabwehr: „Die
       Menschen begrüßen uns und sind dankbar. Sie sehen uns direkt in die Augen,
       wenn sie uns das sagen. Und ich sehe darin gleichzeitig Schmerz und
       Hoffnung. Nach solchen Erlebnissen können wir sie einfach nicht im Stich
       lassen. Wir haben nicht das Recht zu scheitern.“
       
       Vertrauen in Widerstand 
       
       Von Hoffnung spricht auch der Verteidigungsminister Oleksiy Reznikov. Er
       sagt, niemand habe sich vorstellen können, dass die Ukraine der russischen
       Armee Widerstand leisten könne. „Bereits seit einer Woche wehrt die Ukraine
       die russischen Okkupanten ab. Niemand, weder Russland noch der Westen,
       hätte gedacht, dass wir eine Woche durchhalten. Die Einzigen, die daran
       geglaubt haben, sind wir selber.“
       
       Präsident [3][Wolodymyr Selenskyj] nannte diesen russisch-ukrainischen
       Krieg bereits einen Vaterländischen (als Großen Vaterländischen Krieg
       bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen
       Hitlerdeutschland). Viele Bewährungsproben liegen noch vor uns, Verluste
       und Schmerzen, sagen ukrainische Politiker. Das verstehen auch die
       einfachen Leute.
       
       Aber das Vertrauen darin, dass die Ukraine Widerstand leistet und leisten
       kann, wird bei den Ukrainern immer stärker. Das zeigen nicht nur Umfragen
       und Gespräche in der Küche. Das zeigt auch die Einheit der Ukrainer in
       dieser schwierigen Zeit.
       
       Die Journalistin Anastasia Magasowa war Teilnehmerin des
       Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung. 
       
       Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
       
       3 Mar 2022
       
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