# taz.de -- Fluchtweg über die Pyrenäen: Der letzte Weg von Walter Benjamin
       
       > Der Fluchtweg des von den Nazis verfolgten Philosophen über die Pyrenäen
       > wurde als Wanderroute ausgezeichnet. Für ihn war in Portbou der Weg zu
       > Ende.
       
 (IMG) Bild: Blick durch die Installation „Passage“ von Dani Karavan auf die Küste bei Portbou.
       
       Ein großer Bahnhof mit Stellwerk, ein grauer Kieselstrand, ein paar Bars an
       der Rambla und am Wasser. In dem von einer Betonmole eingefassten Hafen
       dümpeln Jachten. Auf den ersten Blick gibt das katalanische Portbou für
       Touristen nicht viel her. Interesse weckt der Ort nahe der französischen
       Grenze vor allem durch seine jüngere Geschichte: In der Nacht zum 27.
       September 1940 endete hier die Flucht des jüdischen Philosophen und
       Literaturkritikers Walter Benjamin vor den Nazis mit seinem Tod.
       
       Seit 1994 erinnert eine Installation des israelischen Künstlers Dani
       Karavan an Benjamin. Das Denkmal in der Nähe des Friedhofs trägt den Namen
       „Passatges“ (Passagen). Es besteht aus einer von eisernen Wänden begrenzten
       Treppe, die über dem Meer vor einer Glasscheibe endet. Der Blick ist frei,
       dennoch bleibt nur die Umkehr.
       
       Nach einem anstrengenden, grenzüberschreitenden Marsch über die Pyrenäen
       war der herzkranke Benjamin in Begleitung einer kleinen Gruppe am 26.
       September 1940 in Portbou angekommen. Er wollte nach Lissabon weiterreisen,
       um dort ein Schiff in die USA zu besteigen. Weil er keinen Ausreisestempel
       der Franzosen vorweisen konnte, kündigten die spanischen Grenzer seine
       Rückschiebung an. Mit einer Überdosis Morphin soll sich Benjamin deshalb
       das Leben genommen haben. In jüngster Zeit sind allerdings Zweifel an der
       Selbstmordthese laut geworden.
       
       Als gesichert gilt, dass Benjamin wenige Tage zuvor im südfranzösischen
       Banyuls-sur-Mer an die Tür der deutschen Exilantin Lisa Fittko klopfte und
       um Hilfe bei der Überquerung der Grenze bat. Gemeinsam mit ihrem Mann hat
       die selbst von den Nationalsozialisten verfolgte Jüdin Fittko 1940 und 1941
       zahlreiche Flüchtlinge über einen alten Schmugglerpfad nach Spanien
       gebracht - mit Benjamin und seinen Begleitern ging sie den Weg aber zum
       ersten Mal.
       
       ## „Ruta Walter Benjamin“
       
       Seit 2009 ist dieser Fluchtweg, über den 1939 die von Francos Truppen
       geschlagenen spanischen Republikaner und Internationalen Brigaden in
       umgekehrter Richtung in den Norden gezogen waren, markiert und mit
       Hinweistafeln ausgeschildert - als „Chemin Walter Benjamin“ auf
       französischer, als „Ruta Walter Benjamin“ auf spanischer Seite. Trotz der
       Kennzeichnung und seiner Beschreibung in Reiseführern und Magazinen, wird
       der Pfad nach Auskunft von Anwohnern kaum begangen. Wir sind die Einzigen,
       die sich an diesem Tag am kleinen Bahnhof von Banyuls auf den Weg machen.
       Auch unterwegs werden wir nur drei weitere Wanderer treffen.
       
       In zunächst flachen Serpentinen zieht sich der schmale Weg den Hügel Puig
       del Mas hinauf. Weinreben und Olivenbäume wachsen auf trockenem Geröll,
       bunte Blumen blühen, der Ginster leuchtet gelb und es duftet intensiv nach
       Gewürzen. Wo aufgemalte Pfeile fehlen, markieren kleine Steinmännchen den
       Weg. Trotzdem versteigen wir uns zweimal und müssen wieder umkehren. An
       einer kleinen Quelle, der Font del Bana, machen wir Halt. Auch Benjamin und
       seine Gruppe haben hier das erste Mal länger gerastet, informiert eine
       Tafel.
       
       Für den 48-Jährigen muss der Anstieg eine Tortur gewesen sein. Seine
       Herzschwäche und Kurzatmigkeit, erinnerte sich Lisa Fittko, zwangen ihn
       immer wieder zu Pausen. Zudem schleppte Benjamin eine schwere Tasche mit
       Manuskripten und Dokumenten mit. „Diese Aktentasche ist mir das
       Allerwichtigste“, soll er gesagt haben. „Ich darf sie nicht verlieren.“
       Weil absehbar war, dass Benjamin die Strecke nicht an einem Tag würde
       bewältigen können, kehrte die Gruppe am Nachmittag des 25. September um.
       Benjamin blieb in den Bergen und verbrachte die Nacht auf einer Lichtung.
       Am nächsten Morgen fand die Gruppe dort wieder zusammen.
       
       ## Ohne Schlagbaum und Grenzschild
       
       Nach gut drei Stunden erreichen wir den Pass in knapp 600 Metern Höhe,
       irgendwo hier oben verläuft die Grenze, unmarkiert, einen Schlagbaum oder
       ein Grenzschild gibt es nicht. Atemberaubende Ausblicke entschädigen für
       die Mühen.
       
       „Weit unten, von wo wir gekommen waren, sah man wieder das tiefblaue
       Mittelmeer“, schrieb Lisa Fittko in ihren Erinnerungen. „Auf der anderen
       Seite, vor uns, fielen schroffe Klippen ab auf eine Glasplatte aus
       durchsichtigem Türkis - ein zweites Meer? Ja, natürlich, das war die
       spanische Küste. Hinter uns, im Norden, im Halbkreis, Kataloniens
       Roussillon mit der Côte Vermeille, der Zinnober-Küste, einer herbstlichen
       Erde mit unzähligen gelb-roten Tönen … Ich schnappte nach Luft. Solche
       Schönheit hatte ich noch nie gesehen.“
       
       Der erste Teil des Abstiegs nach Portbou verläuft durch einen immergrünen
       Steineichenwald. Das Sonnenlicht bricht sich im Blätterdach, Schatten
       tanzen auf dem Boden, eine große grüne Schlange zischelt über das Geröll
       und verschwindet in den Felsen. Teilweise ist es sehr steil und rutschig,
       an manchen Stellen müssen wir klettern.
       
       Nach weiteren zwei Stunden erreichen wir eine kleine Straße, die vom
       Landesinnern kommend, also von Westen her, durch einen Tunnel unter dem
       wuchtigen Bahnhof nach Portbou hineinführt.
       
       ## Vernehmung durch die Guardia
       
       Ob die Guardia Walter Benjamin am Ortseingang erwartete, ihn erst später
       aufgriff oder ob er sich freiwillig meldete, ist nicht bekannt. Nach einer
       Vernehmung und erkennungsdienstlichen Behandlung brachten die Grenzer den
       Flüchtling in eine Pension. Heute beherbergt das Gebäude mit der
       karmesinroten Fassade Apartments.
       
       „In diesem Haus lebte und starb Walter Benjamin“, steht auf einem Schild
       neben dem Eingang. Die letzten Stunden des Philosphen liegen weitgehend im
       Dunkeln.
       
       Seiner Begleiterin Henny Gurland übergab Benjamin in der Nacht einen
       Abschiedsbrief an Theodor W. Adorno. Gurland musste das Schreiben später
       vernichten, aus dem Gedächtnis heraus rekonstruierte sie den Inhalt: „In
       dieser ausweglosen Situation habe ich keine andere Möglichkeit, als sie zu
       beenden. Mein Leben wird ein Ende finden in einem kleinen Dorf in den
       Pyrenäen, wo mich niemand kennt.“
       
       Den Behörden zufolge fand man bei dem Toten eine Mappe „mit einigen
       Papieren unbekannten Inhalts“. Walter Benjamins letztes Manuskript ist
       verschollen.
       
       2 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Reimar Paul
       
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