# taz.de -- Gedenken an Nazi-Verbrechen: Spuren eines Massenmords
       
       > Wenig erinnert in Brandenburg an der Havel daran, dass hier die erste
       > Gaskammer der Nazis stand, in der tausende Kranke und Behinderte ermordet
       > wurden. Jetzt entsteht ein Mahnmal.
       
 (IMG) Bild: Die Gedenkstelen in Brandenburg/Havel
       
       Am 18. Januar 1940 besucht eine Gruppe hochrangiger Nationalsozialisten das
       Städtchen Brandenburg an der Havel. Unter ihnen sind Karl Brandt, Leibarzt
       von Adolf Hitler, der Leiter der Reichskanzlei, Philipp Bouhler, sowie
       einige Chemiker und Ärzte. Sie sind gekommen, um Deutschlands erste
       Gaskammer in Betrieb zu nehmen. Auf dem ehemaligen Gefängnisareal am
       Nicolaiplatz ist dafür eine Garage umgebaut worden. Rund 20 Männer müssen
       sich im Vorzimmer ausziehen und werden in den vermeintlichen Duschraum
       gebracht. Durch ein Guckloch in der Tür beobachten die Ärzte und Chemiker,
       wie das durch Wasserrohre einströmende Kohlenmonoxid die Männer innerhalb
       weniger Minuten tötet.
       
       Zwei Entwicklungen nehmen an diesem Januartag in Brandenburg ihren Anfang:
       Einerseits markiert die Ermordung der 20 Männer den Beginn der "Aktion
       Gnadentod", der innerhalb von anderthalb Jahren rund 70.000 psychisch
       kranke und behinderte Menschen zum Opfer fallen werden. Gleichzeitig
       erweist sich die Gaskammer als praktikable Methode zur schnellen
       massenhaften Ermordung von Menschen. Sie wird in den folgenden Jahren in
       den NS-Vernichtungslagern zur perversen Perfektion ausgebaut.
       
       Wer heute am Brandenburger Nicolaiplatz aus der Straßenbahn steigt, findet
       kaum Hinweise auf die grausame Geschichte des Ortes. Trams und Autos fahren
       vorbei, Bekleidungsgeschäfte und eine Apotheke komplettieren das Bild. Auf
       der gegenüberliegenden Straßenseite verläuft eine niedrige Mauer, die den
       weitläufigen ehemaligen Gefängniskomplex begrenzt. Hier erinnert eine
       kleine Gedenktafel an die fast 10.000 Toten von Brandenburg. Im Krieg und
       danach wurde das Areal, das bereits von 1933 bis 1934 das erste
       Konzentrationslager Preußens beherbergt hatte, fast vollständig zerstört.
       Nur die Wäscherei, ein Gefängnisgebäude und die Außenmauer stehen noch. Von
       den Garagen, wo in manchen Monaten über 1.000 Menschen ermordet wurden, ist
       nichts übrig geblieben. Auf ihrem mutmaßlichen Standort wurden 1997 fünf
       Informationsstelen aufgestellt, zwei weitere sind auf dem Gelände verteilt.
       
       Die Informationen auf den Stelen beschreiben den systematischen Krankenmord
       der Nazis. Von Januar 1940 bis August 1941 wurden in ganz Deutschland rund
       70.000 behinderte und psychisch kranke Menschen in sogenannten
       Euthanasie-Anstalten mit Giftgas getötet. Diese Menschen passten als
       "lebensunwertes Leben" nicht in die nationalsozialistische Ideologie und
       kosteten den "Volkskörper" Geld, das für die Kriegsführung benötigt wurde.
       Im Nachhinein erhielt der Vorgang von Historikern wegen der
       Organisationszentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 die heute
       geläufige Bezeichnung "Aktion T 4". Die Opfer, die oft in Heilanstalten
       lebten, wurden an sechs Standorten in ganz Deutschland zusammengezogen und
       ermordet. Ihre Leichen wurden sofort verbrannt, um Nachforschungen von
       Angehörigen vorzubeugen. Im August 1941 stellte man die systematischen
       Krankenmorde auf Befehl Hitlers hin ein. Der nachfolgenden und dezentralen
       "wilden Euthanasie" fielen nochmals etwa 30.000 Menschen zum Opfer.
       
       Auch 400 Menschen jüdischen Glaubens starben in den Gaskammern von
       Brandenburg. "Hier ist gewissermaßen der Ursprung des Holocaust", sagt
       Hans-Georg Kohnke, Direktor des Stadtmuseums Brandenburg. Im Jahr 2012 wird
       diesem Umstand endlich mit einer eigenen Gedenkstätte Sorge getragen. In
       der renovierten ehemaligen Wäscherei eröffnet dann eine Dauerausstellung
       mit angeschlossener Forschungsstelle. "Ein überfälliger Akt", sagte Günter
       Morsch, Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, zum Baubeginn
       im Januar 2011. Auch die nahe gelegene JVA Görden, in der über 1.000
       politische Häftlinge ermordet wurden, wird Thema der Dauerausstellung sein.
       
       Die "Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg", so der Deckname der
       Brandenburger Einrichtung, wurde schon im Oktober 1940 nach Bernburg
       verlegt. Irmfried Eberl, der die Standorte in Brandenburg und in Bernburg
       leitete, wurde im Jahr 1942 Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka im
       besetzten Polen. Der bis in die 1980er Jahre in Stuttgart praktizierende
       Gynäkologe Aquilin Ullrich war in Brandenburg Eberls Stellvertreter.
       
       Der Abbruch der "Aktion T 4" ist vor allem auf öffentlichen Widerstand
       zurückzuführen. Hier taten sich Geistliche wie der Bischof von Münster,
       Clemens August Graf von Galen, mit einer aufsehenerregenden Predigt, aber
       auch Eltern der Betroffenen und einige Heimleiter hervor. Juristischen
       Widerstand gab es praktisch nicht - nur in Brandenburg. Der hiesige
       Vormundschaftsrichter Lothar Kreyssig wunderte sich über die Häufung der
       Todesnachrichten seiner Mündel und ging sogar so weit, Reichsleiter Philipp
       Bouhler wegen Mordes anzuzeigen. Kreyssig wurde daraufhin in den Ruhestand
       versetzt, eine milde Behandlung, die wohl auf seine Bekanntheit
       zurückzuführen ist.
       
       Über Widerstand von Bürgern dagegen ist auch in Brandenburg nichts bekannt
       - und das, obwohl die Euthanasie-Anstalt mitten in der Stadt lag. Auch
       damals war der Nicolaiplatz ein viel frequentierter Ort. Jeder muss die
       regelmäßig anfahrenden grauen Busse mit verklebten Fenstern gesehen haben.
       "Es muss klar gewesen sein, dass da was passiert", sagt auch Hans-Georg
       Kohnke. Schließlich seien die Verbrennungsöfen nach Beschwerden über
       Gestank in ein Gebäude außerhalb der Stadt verlegt worden. Die genaue Zahl
       der in Brandenburg Ermordeten ist unklar, ebenso in vielen Fällen ihre
       Identität. Die Forschungsstelle soll hier ab dem nächsten Jahr
       Aufklärungsarbeit leisten. Dann wird die Gedenkstätte am Nicolaiplatz nicht
       mehr so leicht zu übersehen sein. Was auch nötig ist, wie Hans-Georg Kohnke
       sagt. Schließlich wüssten immer noch viel zu wenige Brandenburger von den
       Grausamkeiten, die vor knapp 70 Jahren mitten in der Stadt, unter aller
       Augen, fast 10.000 Menschenleben forderten.
       
       20 Nov 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marlen Kess
       
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