# taz.de -- Gegenwart und Zukunft queerer Kämpfe: „Wir haben das geschafft“
       
       > Seit 50 Jahren findet queere Emanzipation immer öffentlicher statt. Mit
       > einer Fülle von Erfolgen. Das kann so weitergehen – nur wie? Und wofür?
       
 (IMG) Bild: Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage ...
       
       Vor wenigen Stunden las ich von meiner guten Bekannten Trude, dass bei
       ihrem Ausflug ins Mecklenburgische in Schwerin ein Räuber versuchte, ihr
       die Handtasche zu entwenden und sie dabei auch persönlich schmähte – mit
       irgendwas übel Abträglichem in Sachen Trans. Trude war nämlich mal ein
       Mann. Der Täter hatte wohl nicht damit gerechnet, dass sie sich wehren
       würde. Dann sprang auch noch eine zufällig am Tatort vorbeilaufende Frau
       Trude bei, und später nahm sich die Polizei des Falles an, inklusive
       Festnahme des Täters.
       
       Das war ja nicht immer so. Was einst galt – und was jeder schwule Mann,
       jede lesbische Frau, jede trans Person natürlich wusste –, war klassische
       Täter-Opfer-Umkehr. Wurde man körperlich überfallen oder mit Worten
       geschmäht und versuchte, dies zur Anzeige zu bringen, konnte man nicht auf
       solidarische Hilfe rechnen, auch kaum mit souveräner Ermittlung der
       Polizei; die machte sich oft über trans Menschen lustig.
       
       Queere Menschen waren unsichtbar, schwule Männer waren bis 1969
       strafrechtlich sogar prinzipiell verfolgt. Alles spielte sich in
       Undergrounds ab, in Kneipen, Bars, Theatercafés, privaten Wohnungen. Das
       hat sich erheblich geändert, genauer gesagt: Wir haben das geändert.
       Schwule und Lesben, über die Jahre seit den frühen Siebzigern auch immer
       mehr trans Menschen. Wir nahmen uns das unhintergehbare Recht, zu sagen,
       was zu sagen ist: Wir sind da – und wollen nicht abschätzig oder gar
       diskriminierend behandelt werden. Wir machten uns selbst, um eine
       Formulierung von Carolin Emcke zu nutzen, „sagbar“.
       
       ## Die Angst ist verschwunden
       
       Noch eine kleine Anekdote: Vor rund 25 Jahren lernte ich in Hamburg einen
       Mann kennen, der aus der DDR kam. In Hamburg ließ er seine Wünsche nach
       Frau und Kindern zurück – um schwul zu leben. Besser: Um homosexuell
       unbeobachteter zu leben als in seiner alten Heimat. In der schwulen Sauna
       lernte er einen Mann kennen, mit dem er sich später auch jenseits der
       Schwitzräume traf.
       
       Bei erster Gelegenheit wurde dieser Freund jedoch erpresst: Entweder du
       bezahlst oder ich erzähle deinem Arbeitgeber von deinem Schwulsein. Eine
       Geldübergabe wurde verabredet. Aber der Freund von mir verpasste dem
       Erpresser an einer Bushaltestelle ein paar Faustschläge, statt ihm Geld zu
       geben. So war das früher: Schwule und Lesben hatten horrende Angst, dass in
       ihren Büros und Werkstätten jemand von ihrer Nichtheterosexualität
       erfahren könnte. Das ist zum Teil immer noch der Fall, aber das einst
       Übliche, die Erpressbarkeit, dieses bleierne Gefühl, über eine bös
       entzündliche Achillesferse zu verfügen, ist weitgehend verschwunden.
       
       Zwischen damals und heute haben sich die Verhältnisse nicht ins
       Paradiesische verändert. Aber ins fundamental Bessere. Wir feiern CSDs als
       öffentliche Partys mit politischem Unterfutter. Nicht nur in Berlin, nicht
       wie neulich in Köln als städtisches Happening, sondern auch in kleinen
       Städten. Die Nachrichtensendungen berichten darüber durchweg positiv.
       Queeres als Versammlung buntester Art gilt als normal. Was denn auch sonst?
       
       Wir sollten das feiern: Dass die Zeiten der Erpressbarkeit nur noch bei
       Älteren ein verblassender Alptraum sind – wenigstens hierzulande, wie in
       fast allen westlichen Ländern mit jahrzehntelanger Geschichte sozialer
       Bewegungen. Dass ein Ministerpräsident der CDU wie Hendrik Wüst sich
       selbstverständlich in Köln beim CSD sehen lässt, wäre vor drei Dekaden
       undenkbar gewesen. In Polen oder gar in Russland (mit seinen homo- und
       transphoben Gesetzen) ist das jenseits der Möglichkeiten – wobei in
       Warschau und anderen Städten unseres Nachbarlandes CSDs ja immerhin
       stattfinden können.
       
       Feiern sollten wir, dass das Wesentliche erreicht wurde. Schwule und Lesben
       sind, aus dem Blickwinkel von heterosexuell orientierten Menschen,
       vielleicht anders, aber keine Aliens, die es zu züchtigen gilt. So
       minderheitlich wie die Linkshändigkeit – die Kindern in Schulen brutal
       abgewöhnt wurde – bei Menschen: eine Minderheit, nichts weiter, ebenso okay
       wie Rechtshändigkeit das Gewohnte ist.
       
       Was politisch bleibt, ist: unsere Präsenz öffentlich zu preisen, wie bei
       den CSDs. Ja, das So-Sein ist politisch, da braucht es keine besonderen
       politischen Forderungskataloge. „United in LOVE“, wie das Motto des
       hauptstädtischen CSD dieses Jahr lautet. Es gibt bessere Motti, aber was
       sollten die Leute im CSD-Kreis auch machen: Das Diskriminierende
       schlechthin ist ja abgeräumt, sogar das heterosexuelle Paare
       privilegierende Eherecht wurde vor fünf Jahren getilgt mit der Ehe für
       alle.
       
       Über den Rest wird gestritten, mehr und mehr auch in der nichtqueeren
       Öffentlichkeit. Eine Grundgesetzerweiterung mit einer Passage, die auch
       ausdrücklich Schutz der sexuellen Orientierung (oder Identität) benennt,
       steht auf der Agenda. Aber sie ist unsicher, weil es hierfür eine
       Zweidrittelmehrheit im Bundestag braucht. Außerdem kann ja nicht jede
       sexuelle Identität gewertschätzt werden: Pädosexualität sollte ja nicht
       gemeint sein.
       
       ## Politisches Risiko
       
       Offen ist auch, was aus dem Selbstbestimmungsrecht wird. Klar, besonders
       auf Druck der Grünen und der FDP wird dazu ein Gesetz verabschiedet werden,
       mutmaßlich Ende des Jahres. Aber noch ist es nicht im Bundestag verhandelt
       worden. Es geht um nicht unwichtige Fragen: Sind Frauen geschützt, die
       nicht möchten, dass trans Frauen, die einen Penis haben, ihre Räume
       benutzen, beim Sport etwa? Gehen Grüne und FDP auf diese Bedenken ein? Oder
       gehen sie ins volle politische Risiko, einfach ihr Ding durchzusetzen, ohne
       Rücksicht auf klassisch-feministische Bedenken? Setzen diese beiden
       Parteien in dieser Frage auf die politische Spaltung des Landes? Denn das
       Gesetz ist den meisten Menschen im Lande gleichgültig. Queeres mit oder
       ohne Stern, (narzisstische) Ausstellung der Pronomen (he/his oder she/her),
       Spielchen um den Abschied von Geschlechtsbinaritäten, das alles ist
       eigentlich Kinderkram für 98 Prozent aller Wähler jenseits der großen
       Städte.
       
       Die Union – die AfD ja sowieso, aber auf die kommt es nun echt nicht an –
       wird gegen das Gesetz stimmen, das ist sicher. Aber die politische
       Erfahrung lehrt, dass Gesetze, die uns betreffen, am besten befolgt werden,
       wenn sie auch von wesentlichen Teilen der Opposition getragen werden. So
       war es auch vor fünf Jahren bei der Ehe für alle, als die meisten
       tonangebenden Abgeordneten der Union zustimmten. Die weitere Entwicklung
       wird also spannend – im Wortsinn.
       
       Mir ist es aber wichtiger, darüber zu berichten, dass eine gute Bekannte
       wie die transsexuelle Trude endlich als Frau anerkannt wird – und sich zur
       Wehr setzt. Das ist ein ermutigendes Zeichen. Bräuchte ich mal einen
       Bodyguard-Service: Ich würde auf Trude bauen. Mit Menschen wie ihr geht es
       sich wesentlich leichter durch die Welt.
       
       • Dieser Text erscheint im taz Thema Christopher Street Day, Ausgabe Juli
       2022. Redaktion: Ole Schulz.
       
       13 Jul 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan Feddersen
       
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