# taz.de -- Interview mit Popmusik-Experten Hentschel: „Heißester Gig des Kalten Krieges“
       
       > Autor Joachim Hentschel über sein Buch zur Musikgeschichte zwischen DDR
       > und BRD, Punks im Osten und den gecancelten Udo Lindenberg.
       
 (IMG) Bild: Ekstase eindeutig erkennbar: der Gitarrist Bernd Römer von der DDR-Band Karat beim Auftritt 1981
       
       taz: Herr Hentschel, warum haben Sie drei Jahrzehnte nach der
       Wiedervereinigung noch ein Buch geschrieben über die Popmusik in der DDR
       und BRD und ihr Verhältnis zueinander? 
       
       Joachim Hentschel: Mir ging es um die Dynamik, wie diese Szenen miteinander
       in Kontakt gekommen sind und den gesellschaftspolitischen Kontext. Ich
       selbst wurde ja in der sogenannten Deutschrockzeit in den 80ern
       sozialisiert, die anders als die Krautrock- oder Punkzeit lange als uncool
       galt. Dabei ist diese Ära sehr interessant, weil sie keine rein
       westdeutsche Geschichte widerspiegelt. Peter Maffays Durchbruchhit „Über
       sieben Brücken“ stammte aus der DDR. Karats „Blauer Planet“ wiederum war
       ein Top-Ten-Erfolg im Westen.
       
       Berlin war eine Drehscheibe des Kulturaustauschs im Kalten Krieg? 
       
       Ja, schon weil Ostberlin das kulturelle Zentrum der DDR war, sowohl der
       offiziellen DDR-Kultur wie auch der Subkultur.
       
       Sie sind in Süddeutschland aufgewachsen. Wie kamen Sie persönlich mit der
       DDR-Musik in Kontakt? 
       
       Als Acht-, Neunjähriger habe ich in Baden-Württemberg bereits DDR-Musik
       wahrgenommen. Da mein Vater und ein Opa aus Sachsen stammten und wir
       gelegentlich Besuch aus der DDR bekamen, war mein Interesse vielleicht
       etwas stärker ausgeprägt, als das üblich war. Ich war aber nur einmal auf
       Klassenfahrt in Ostberlin, wo wir die 25 Mark Zwangsumtausch für
       Klaviernoten und das „Kommunistische Manifest“ ausgegeben haben. Zu Hause
       hatte ich allerdings auch Platten von Ostbands. Karat, City, Puhdys oder
       die Sängerin Bettina Wegner kannte ich aus dem Süddeutschen Rundfunk. Ich
       habe den Ost-West-Unterschied bei der Musik gar nicht so krass
       wahrgenommen. Mein Buch behandelt letztlich die Frage: Wie wurde dieser
       Kanal eingerichtet, in dem Musik von einer Seite auf die andere gelangte?
       
       Dieser Musiktauschverkehr begann ja sehr früh. 
       
       Ja, schon zu einer Zeit, in der jegliche Annäherung auf beiden Seiten ein
       heikles Thema war. Ab 1959 hat der westdeutsche Musikmanager Hans Beierlein
       die Rechte an mehreren DDR-Schlagern billig in Ostberlin erworben und sie
       mit neuen Sängern in der Bundesrepublik zu Hits gemacht. Später waren es
       auch Schlagersänger aus dem Westen, die als erste Popmusiker in der DDR
       auftreten dürften, vor allem in Ostberlin, gern in der TV-Show „Kessel
       Buntes“. Diese Art von Annäherung darf man nicht banalisieren von wegen:
       War ja eh wurscht bei Schlagersängern.
       
       Mit den befürchtete man wohl allerdings auch wenig Ärger, da kaum
       Ausschreitungen wie vielleicht bei Rockbands zu befürchten waren, oder? 
       
       Die Sorge gab es sicherlich. Als die Rolling Stones 1965 die Waldbühne
       verwüsteten, wurde das von der DDR-Presse sofort ausgeschlachtet. Das Neue
       Deutschland druckte den Bild-Horrorartikel „Ich saß in der Hölle“ von
       Marianne Koch eins zu eins nach als Beleg für die Gewalt und Gehirnwäsche
       des westlichen Rocks. Danach verschärften sich auch die Schikanen für die
       eigenen Beatbands.
       
       Trotzdem ging es auch im Rock- und Popbereich, vor allem im Zuge der
       politischer Entspannung, ziemlich hin und her, vor allem zwischen West- und
       Ostberlin? 
       
       Das lag einerseits daran, dass das trotz der Teilung der Stadt logistisch
       relativ einfach war, und andererseits, dass auf beiden Seiten viele
       Möglichkeiten der Zusammenarbeit und des Austauschs bestanden. In Ostberlin
       befanden sich das DDR-Fernsehen, die Plattenfirma Amiga und die
       Rundfunkstudios, in denen viel DDR-Musik produziert wurde. Auch die
       populärsten DDR-Künstler lebten in Ostberlin. Und in Westberlin gab es
       ebenfalls Plattenfirmen sowie eine Menge Auftrittsorte wie das Quartier
       Latin oder die Waldbühne, die für die Ostmusiker quasi um die Ecke lagen
       und günstig zu erreichen waren – wenn man einen Pass bekam.
       
       Ostberlin schien fast eine Art Sehnsuchtsort für etliche Westkünstler, man
       denke nur an Udo Lindenberg, der mit dem „Sonderzug nach Pankow“ wollte. 
       
       Er schaffte es ja 1983 immerhin nach Mitte in den Palast der Republik, wo
       er bei einer Friedensgala auftrat. Seine Show kann man als das
       Leuchtturmereignis des deutsch-deutschen Musikaustauschs bezeichnen. Es hat
       im Grenzverkehr wohl dramatischere, spannungsreichere Episoden gegeben,
       aber Udo live in concert im Prunkbau Erich Honeckers, das war der
       spektakulärste Gig während der eiskalten Jahre. Er war auch im Westen
       umstritten, aber alles andere als läppisch. Was man auch daran sieht, dass
       die Funktionäre ihm anschließend die zugesagte DDR-Tournee cancelten, weil
       ihnen die Verehrung der DDR-Fans nicht mehr geheuer war. Außerdem hatte
       Lindenberg bei seinem Kurzauftritt die Sowjetraketen in der DDR kritisiert.
       Solche Momente oder unvorhergesehene Ereignisse wie die spontane Fantraube
       um Udo vorm Palast entfalteten eine große Wirkung. Musik hatte damals –
       anders als heute – auch eine Funktion als Nachrichtenmedium. Die Konzerte
       waren nicht zu unterschätzen.
       
       Welche Musik im Westen angesagt war, darüber waren die meisten DDRler dank
       Radio und Westfernsehen auf dem Laufenden. Wie verhielt es sich anders
       herum? 
       
       In Westberlin kannte man sich einigermaßen aus, wenn man sich
       interessierte. Je weiter weg die Westdeutschen von der Grenze lebten, desto
       weniger Ahnung hatten sie in der Regel von der Ostmusik.
       
       Was man in der DDR nicht mitbekam, waren eher die seltsamen ökonomischen
       Verflechtungen, oder? 
       
       Da war ich auch völlig überrascht. Die Westberliner Plattenfirma Hansa
       hatte in den 80ern ein Sublabel namens Rockoptus, für das es zeitgemäßes
       Rockrepertoire suchte. Dort erschienen Alben von den DDR-Bands Kreis oder
       Silly, die erst nachträglich auf Amiga veröffentlicht wurden. Man
       produzierte im DDR-Rundfunk in der Nalepastraße in Oberschöneweide auch
       kostengünstig Instrumentalmusik für die ARD-Nachtschiene. So entstanden
       Aufnahmen von glamourösen Gaststars wie Max Greger mit einem
       DDR-Tanzmusikorchester. Für die abgeriegelten Sonderproduktionen wurde der
       DDR-Rundfunk in D-Mark bezahlt. Oder: Als Wolf Biermann in der DDR keine
       Platten veröffentlichen durfte, hat er sie zu Hause in der Chausseestraße
       auf Tonband aufgenommen. Dann kam eine Frau vom CBS-Label aus
       Frankfurt/Main mit Tagespassierschein zu ihm und hat die Bänder abgeholt.
       Das war der Stasi sicher bekannt. Es wurde geduldet, denn die DDR verdiente
       über die Gema-Ausschüttungen an Biermann rückwirkend mit davon. Später gab
       es für Sillys Album „Februar“ eine deutsch-deutsche Koproduktion von Amiga
       und Ariola. Wenn es ums Geldverdienen ging, scheute man keine Berührung.
       
       Auch im Underground wurde gemeinsame Sache gemacht?! 
       
       Auf beiden Seiten wurden ja die Subkulturen vom Mainstream abgelehnt, aber
       im Westen konnten eigene Netzwerke aufgebaut und Platten veröffentlicht
       werden. Das ging im Osten nicht. Trotzdem erschien 1983 mit heimlicher
       Unterstützung von Westlern die historische Punk-LP „DDR von unten“ in
       Westberlin. Leute wie Dimitri Hegemann hatten die Aufnahmen von
       Ostpunkbands in die Bundesrepublik geschmuggelt. Überhaupt wurde viel
       zwischen Ost- und Westberlin halb- bis illegal gehandelt. Ständig reisende
       Bands wie Puhdys oder Karat brachten Musikequipment mit in die DDR, wo sie
       es an andere Musiker verkauften.
       
       Es gab sogar illegale Konzerte von Westbands in Ostberlin, zweimal allein
       von den Toten Hosen. 
       
       Für sie waren die regelrecht identitätsstiftend, weil sie auf einmal
       spürten, was Gefahr und Ärger mit der Polizei wirklich heißt. Punks im
       Osten konnten wählen zwischen Schnauzehalten und Knast. Da war es fast
       makaber, dass die Hosen den Nervenkitzel hatten und danach wieder
       rüberkonnten, während ihre Kollegen von der Ostberliner Band Planlos weiter
       mit der Gefahr klarkommen mussten. Das ist auch ein bitterer Aspekt in
       diesem Fall: Planlos konnten noch so erfindungsreich sein, hatten aber
       keine Zukunft. Für sie war es unmöglich, mit der Musik Geld zu verdienen
       und auch eine große Nummer zu werden.
       
       Welche Bedeutung hatte der musikalische Grenzverkehr nach Ihrer Meinung für
       den Fall der Mauer 1989? 
       
       Ich habe mit vielen Protagonisten von damals gesprochen und fand die sehr
       unterschiedlichen Haltungen zu der Frage überraschend. Deutlich wurde mir,
       dass die musikalischen Begegnungen über die Mauer hinweg noch mal etwas
       anders waren als Waren-Import-Export. Es entstand eine unglaubliche Kraft,
       wenn Künstler auf der anderen Seite auftraten mit allen Unwägbarkeiten, die
       vor allem der DDR nicht gefielen. Zugleich gab es in der DDR einzelne
       Menschen, die nicht warten wollten, bis von oben ein Schlupfloch in der
       Mauer geöffnet wird, sondern die selbst Initiative zeigten. Mal waren das
       radikale Systemgegner aus der Subkultur, mal auch Leute aus dem Apparat,
       die die Musik liebten und Dinge im Rahmen des Erlaubten ermöglicht haben,
       ohne das System infrage zu stellen. Leute wie Rainer Börner, der
       hauptamtlich bei der Ostberliner FDJ-Bezirksleitung arbeitete, aber auch
       ein Rock-’n’-Roller war. Er hatte sich für Konzerte von Bob Dylan, Depeche
       Mode und Rio Reiser in Ostberlin eingesetzt, teilweise mit persönlichem
       Risiko, und auch den Rocksommer 1988 mit den Auftritten von Bruce
       Spingsteen und anderen in Weißensee geprägt. Er war zeitweise Stasi-IM und
       hat unangepasste Bands in der FDJ gefördert, womit er sie auch ein Stück
       weit ins System integrierte. An diesen Widersprüchen in der Biografie hatte
       er bis zu seinem Tod zu knabbern.
       
       18 Jul 2022
       
       ## AUTOREN
       
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