# taz.de -- Kinder- und Jugendhilfe in Berlin: Das System funktioniert nicht
       
       > Der erste selbst organisierte Kinder- und Jugendhilfegipfel macht auf die
       > Probleme durch Unterfinanzierung und zu wenig Personal aufmerksam.
       
 (IMG) Bild: Schon im Februar gab es  Protest gegen die katastrophale Situation im Jugendhilfesystem
       
       BERLIN taz | Ein Jugendlicher springt am Dienstagvormittag auf die Bühne
       vor dem Roten Rathaus, schnappt sich ein Mikrofon und ruft: „Unsere erste
       Forderung ist mehr Personal.“ Die Menschen im Publikum, manche in dicken
       Jacken und mit Mützen, klatschen stürmisch. Es ist der erste „Kinder- und
       Jugendhilfegipfel“, organisiert von der AG Weiße Fahnen und unterstützt von
       der Gewerkschaft GEW und dem Berufsverband für Soziale Arbeit DBSH.
       
       Es ist ein Aufschrei: Seit Jahren berichten Jugendämter von Personalnot,
       nicht ausreichenden Personalschlüsseln, von Überlastung. Von den
       Protestierenden mitgebrachte laminierte Zeitungsartikel zeigen die
       jahrelangen Versuche, auf die Probleme im System aufmerksam zu machen.
       Schon 2011 wurde immer wieder über Geldverteilung und Personalbedarf
       gestritten. Dann kamen Pandemie und Kriege. Die Situation hat sich nicht
       verbessert. Im Gegenteil.
       
       „Es gibt immer mehr Kürzungen entgegen unseren Rufen, dass der Bedarf
       steigt und dass wir mehr finanzielle Mittel aufbringen müssen, um auf lange
       Sicht Linderung zu schaffen“, sagt Verena Bieler vom DBSH. Sie hat den
       Gipfel mitorganisiert, nach der Arbeit.
       
       Der Gipfel soll die [1][Vernetzung zwischen Adressat:innen und
       Sozialarbeitenden] fördern, es geht um die Herstellung einer Sorgekultur,
       die das „dysfunktionale Kinder- und Jugendhilfesystem“ zu überwinden weiß.
       Dafür sind Menschen aus unterschiedlichsten Bereichen der Jugendhilfe
       gekommen: aus dem Jugendamt, aus stationären und teilstationären
       Einrichtungen, aus der offenen Jugendhilfe. Sie tragen Ergebnisse zusammen,
       die im Anschluss [2][Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU)] übergeben
       werden.
       
       ## Eine vom Staat produzierte Armut
       
       „Die Situation ist nicht gut, aber wir machen trotzdem weiter. Weil es um
       Menschen geht, die das benötigen. Hier bekommen alle den Druck von der
       Ökonomisierung der sozialen Arbeit mit. Was uns natürlich mächtig gegen den
       Strich geht“, ruft Verena Bieler ins Mikrofon.
       
       Besonders betroffen von der Ökonomisierung sind die Adressat:innen der
       Jugendhilfe. Jane Rieck arbeitet beim freien Träger Trialog Jugendhilfe im
       Projekt „Queeres Leben“. Er arbeitet viel mit Jugendlichen, die sich nach
       der Jugendhilfe, ab dem Alter von 21 Jahren, im Übergang befinden, eine
       Zeit, die nicht hinreichend reguliert und ökonomisch unterfüttert ist. Bis
       zum Beginn dieses Jahres mussten Kinder in der Jugendhilfe, die sich etwas
       dazuverdienen wollten, aber noch Geld vom Staat bekamen, einen Großteil
       dieses Geldes an die Jugendhilfe abgeben. Sparen für die Zeit nach der
       Jugendhilfe, das ging nicht.
       
       Es ist eine vom Staat produzierte Armut, die viele Sozialarbeitende auch
       aus dem System herausspülen. Die, die bleiben, arbeiten unter belastenden
       Bedingungen: „Wie sollen wir gut miteinander sorgen, wenn jemand zum
       Jugendamt kommt und die Sozialarbeiterin im Zweifel noch nicht einmal etwas
       gegessen hat, weil sie keine Zeit hat?“, fragt Verena Bieler.
       
       Anders als Jugendliche, die von ihren Familien emotional und ökonomisch
       versorgt werden, sind sogenannte Careleaver, junge Menschen, die sich im
       Übergang befinden, nach Vollendung der Jugendhilfe oft auf sich allein
       gestellt. Bei Freunden pennen, in Notunterkünfte gehen, durch die Nacht
       laufen, weil es keinen Schlafplatz gib. Studien und Berichte deuten darauf
       hin, dass die „Careleaver“ im Vergleich zu Gleichaltrigen ein höheres
       Risiko haben, obdachlos zu werden.
       
       ## Anfang für eine Art Gesamtplan
       
       Jugendhilfe ist mit [3][Fragen um Armut und Klasse] verknüpft, mit
       Rassismus, sozialer Ungleichheit. Mehr und mehr Alleinerziehende können
       unter neoliberalen Bedingungen ihre Kinder nicht mehr versorgen, immer mehr
       junge Menschen müssen aus dem globalen Süden vor Krieg und
       Klimakatastrophen flüchten. Auf diese komplexen gesellschaftlichen Lagen
       reagiert die Jugendhilfe.
       
       Doch die Politik reagiere seit Jahren immer nur punktuell, sagt Fabian
       Schmidt von der GEW. „Dabei brauchen wir in einer wachsenden Stadt mit
       wachsenden Bedarfen, wo es benachteiligte Kinder gibt und die Ungleichheit
       zwischen Arm und Reich so groß ist, einen Gesamtplan, wie die Jugendhilfe
       in der Zukunft damit strukturell umgehen kann.“
       
       Für solch einen Art Gesamtplan soll der Jugendhilfegipfel ein Anfang sein.
       Mit weniger Zeit für Bürokratie und mehr Zeit für die Menschen, mehr
       Personal, mehr Geld und einer Sorgekultur, die allen gerecht wird.
       
       Am Ende der Veranstaltung werden die Ergebnisse Staatssekretär Liecke
       übergeben. Verabredet wird ein Auswertungsgespräch in diesem Jahr. Dann
       soll verabredet werden, ob es einen gemeinsamen Fachtag gibt, im ersten
       Quartal oder in der ersten Jahreshälfte des nächsten Jahres.
       
       Bis tatsächlich mehr Geld und mehr Personal ins System gespült wird, bleibt
       es bei den Menschen innerhalb der Jugendhilfe, die Beziehungen und
       Verhältnisse möglichst sorgend zu gestalten. „Vielleicht ist heute ein
       kleiner Leuchtturm für die Republik“, sagt Verena Bieler am Ende der
       Veranstaltung. „Dass wir uns vernetzen und stark machen für die Belange,
       die es gibt. Wir wollen ein Signal senden: Es ist machbar.“
       
       10 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Sozialpolitik-in-Berlin/!5941856
 (DIR) [2] /Brandbrief-des-Kindernotdienstes/!5937675
 (DIR) [3] /Kinderarmut-in-Deutschland/!5925664
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anna Kücking
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Jugendhilfe
 (DIR) Gewerkschaft GEW
 (DIR) Sozialarbeit
 (DIR) Kita-Streik
 (DIR) Jugendhilfe
 (DIR) Inobhutnahme
 (DIR) Jugendhilfe
 (DIR) Sozialarbeit
 (DIR) Demonstration
 (DIR) Sozialarbeit
 (DIR) Jugendhilfe
 (DIR) Sozialarbeit
 (DIR) Jugendhilfe
 (DIR) Elterliche Gewalt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Krise der sozialen Infrastruktur: Auf dem Weg in die Dystopie
       
       Der Kinder- und Jugendnotdienst steht vor dem Kollaps – genau wie Kitas,
       Sozialhilfe und Schulen. Anstatt zu investieren, spart der Senat weiter.
       
 (DIR) Berliner Kinder- und Jugendhilfe: Der Kampf um die Hilfe
       
       Der Berliner Notdienst Kinderschutz ist überlastet und kann keine Kinder
       mehr aufnehmen. Die Last tragen die Jugendämter.
       
 (DIR) Rassismusvorwürfe gegen Jugendamt: Kindeswohl in Gefahr
       
       Viele Inobhutnahmen seien ungerechtfertigt, weil Behörden häufig aufgrund
       von Vorurteilen arbeiten, kritisieren antirassistische Organisationen.
       
 (DIR) Überlastete Berliner Jugendhilfe: Jugendamt kapituliert
       
       Seit Monaten warnen Sozialarbeitende vor einem Kollaps des
       Hilfesystems. Nun hat sich ein Jugendamtsteam in Berlin wegen Überlastung
       aufgelöst.
       
 (DIR) Protest von Sozialarbeiter*innen: Ausgebrannt und unterbezahlt
       
       Über 1.000 Sozialarbeiter*innen demonstrieren in Berlin für bessere
       Arbeitsbedingungen und machen Druck für die beginnenden Tarifverhandlungen.
       
 (DIR) Sozialarbeiter demonstrieren in Berlin: An der Grenze der Belastbarkeit
       
       Mit einer großen Demo wollen Sozialarbeiter:innen am Samstag auf
       ihre Lage aufmerksam machen und sich für die Tarifverhandlungen warm
       laufen.
       
 (DIR) Demo gegen Kürzungen bei Sozialer Arbeit: „Viele Kinder waren schockiert“
       
       Mit einem breiten Bündnis wird zum Protest gegen Kürzungen bei der sozialen
       Arbeit der Bezirke aufgerufen. Eine der Organisator*innen: Simone Hermes.
       
 (DIR) Kinder- und Jugendhilfe in Berlin: Keine sorgende Zukunft mit Liecke
       
       Die Kinder- und Jugendhilfe braucht mehr Personal und mehr Geld. Mit
       Berlins Jugendstaatsekretär Falko Liecke (CDU) wird das nichts werden.
       
 (DIR) Sozialpolitik in Berlin: Kurz vor dem Kollaps
       
       Statt Entlastung wegen des Fachkräftemangels erwartet die sozialen Berufe
       Kürzungen in Millionenhöhe. Der Protest ist groß.
       
 (DIR) Brandbrief des Kindernotdienstes: Katastrophe mit Ansage
       
       Der Jugendstaatssekretär besucht den Berliner Kindernotdienst. Zuvor hatten
       Mitarbeitende einen Brandbrief wegen schlechten Arbeitsbedingungen
       geschrieben.
       
 (DIR) Berliner Kindernotdienst: System gesprengt
       
       Zu viele Kinder und zu wenig Personal belasten die Mitarbeitenden des
       Kindernotdienstes in Berlin. Sie haben deshalb Gefahrenanzeigen gestellt.