# taz.de -- Kirche ohne Mitglieder: Reif für die gottlose Gesellschaft?
       
       > Der Zustand der Kirche erinnert an Palliativmedizin und Sterbebegleitung
       > statt an die Feier des Lebens. Ihr Siechtum ist dennoch keine gute
       > Nachricht.
       
 (IMG) Bild: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, sondern er ist auferstanden“ Lk 24,5-6
       
       Ostern ist das prächtigste Freiluftspektakel der christlichen Welt. Wer
       mal [1][die Semana Santa] am Pazifikstrand oder die Prozession im
       andalusischen Sevilla erlebt hat, versteht, warum das Berghain in
       Nordeuropa erfunden werden musste: Drei Tage wach, Körper und Geist von
       Musik und Masse verzücken zu lassen – dafür brauchen Katholiken im Süden
       nicht erst einen Club zu gründen.
       
       Religiöse Momente sind Live-Events. Es braucht Masse um einen herum, um so
       in Verzückung zu geraten – auch wenn es Leute gibt, die beim Sound ihrer
       Stereoanlage ähnliche Stadien erreichen. Außerhalb dieser Live-Events
       landet die Kirche in der „Tagesschau“ nur noch auf den hinteren
       Sendeplätzen, in der Abteilung Vermischtes, also da, wo auch der Bericht
       über [2][die Loveparade] lief, als es sie noch gab. Weiter vorne landet sie
       nur noch, wenn es um Verbrechen in ihren eigenen Reihen geht. Es ist
       Ostern, aber statt der Kirche dabei zuzusehen, wie sie voller Verzückung
       die Auferstehung Jesu feiert, hat man das Gefühl von Sterbebegleitung. Wir
       schauen dem Siechtum ungläubig zu: Wie kann es sein, dass dieser
       jahrhundertealten Superpower nichts anderes mehr einfällt als
       Palliativversorgung?
       
       Anfang des Jahres warnte der Papst: „Wenn Ideologie in kirchliche Prozesse
       einfließt, geht der Heilige Geist nach Hause.“ Ein schönes Bild; allein,
       dass er mit Ideologie nicht die katholische Weltanschauung meinte, in der
       eine Frau unrein und Homosexualität Teufelszeug ist. Ideologie sieht der
       Papst [3][in der aktuellen Reformbewegung der deutschen Katholiken, im
       Synodalen Weg].
       
       Ideologie ist wie Mundgeruch 
       
       Auch der Papst unterliegt also dem Glauben, den der marxistische
       Theoretiker Terry Eagleton anschaulich beschrieb: Ideologie sei wie
       Mundgeruch, den haben immer nur die anderen. Ausgerechnet der 266. Bischof
       von Rom. Ausgerechnet Papst Fanziskus, von dem sich so viele erhofft
       hatten, er würde der sympathische Anführer einer Reformbewegung sein, der
       Verantwortung für die eigenen Verbrechen übernimmt, Geschichte aufarbeitet,
       Opfer entschädigt, Geschlechterdiskriminierung, Hierarchien, Korruption
       abbaut und den Palliativansatz seiner Vorgänger über den Haufen wirft.
       
       Dabei könnte er sich doch im hauseigenen Fundus bedienen: „Was sucht ihr
       den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, sondern er ist
       auferstanden“, heißt es im Lukas-Evangelium, das dieser Tage in zig
       Ostergottesdiensten wieder zitiert werden wird.
       
       Doch die Kirche sucht ihr Leben weiter unter den Toten. „Die Kirche ist
       tot, es lebe der Glaube!“, feiern Kirchenkritiker deswegen konsequent den
       Schwund der Kirchenmitglieder, den auch Franziskus fast schon mutwillig
       befeuert. Verbrechen, Verschwendung, Versklavung, Vertuschung, Missbrauch
       von Macht, Kindern und, ja, auch Männern, die durchs Zölibat gezüchtigt
       werden sollen – so viele Gründe, dem Laden, der jahrhundertelang
       Spitzenreiter in der weltweiten Vermarktung der guten Gewissen war, die
       Insolvenz zu wünschen. Das Christentum hat die größten Verbrechen der
       Menschheitsgeschichte mitzuverantworten und das größte, die Shoah, nicht
       verhindert. Es hat weder der Arbeiterklasse noch dem Klima was gebracht.
       Für Flüchtende tritt es auch nur dann ein, wenn die Überlebenden ihnen die
       Tür eintreten. Man könnte also sagen: Scheiß drauf.
       
       Für eine immer größer werdende Mehrheit von Christen stimmt das
       Preis-Leistungs-Verhältnis sowieso nicht mehr. Ihnen wird einfach nicht
       mehr genug geboten. Nicht nur im Norden, wo das einzige Spektakel, das man
       sich in den dortigen Kirchen gönnte, aus einem Osterfeuer besteht, auf dem
       der Sperrmüll aus dem Frühjahrsputz verbrennt. Die Kirchen sind heute
       schlicht nicht mehr konkurrenzfähig.
       
       Aber ist das wirklich eine gute Nachricht, ein Grund zum Feiern für
       Atheisten, Häretiker oder Agnostiker, Kapitalismuskritiker? Der
       Mitgliederschwund der Kirchen hat nur bedingt mit dem Bekanntwerden
       sexuellen Missbrauchs und dessen Vertuschung zu tun. Es ist banaler: Der
       Mitgliederschwund der Kirchen hält seit den 1980er Jahren an und verläuft
       parallel zum Mitgliederschwund der Parteien, Gewerkschaften, Vereine.
       Jegliche kollektive Organisierung steht unter Ideologie- und
       Hierarchieverdacht.
       
       Soziologen wie Robert Putnam („Bowling Alone“) warnten schon vor 20 Jahren
       vor Individualisierung und Privatisierung des Sozialen. Der Verlust
       kollektiver Organisierung münde in Nomadentum, was den Rechten Zulauf
       bringe, da sich populistische, sektenhafte, protofaschistische bis
       faschistische Mobs in den sozialen Brachen breitmachen könnten. Ereignisse
       wie die Wahl des quasiparteilosen Donald Trump zum US-Präsidenten, der
       Sturm aufs Kapitol, aber auch die Querdenkerbewegung könnten dieser Analyse
       recht geben.
       
       Wo früher Kollektive der Autorität des Staats entgegentraten, stehen heute
       lose Schwärme und Mobs von Querdenkern, QAnon-Anhängern oder
       Internettrollen. Anstelle kollektiver Betriebsversammlungen drückt heute
       das individuelle quiet quitting die Unzufriedenheit aus. Mit der Folge,
       dass die Entfremdung immer größer, die eigene Stellung aber auch nicht
       besser wird.
       
       Doch mit den Kirchen ist es wie mit den Zeitungen und der Wirtschaft.
       Sowenig der Tod der gedruckten Zeitung das Ende des Journalismus oder das
       Ende der Fünftagewoche das Ende des Kapitalismus ist, wird das Ende der
       Kirche das Ende von Glaube, Religion und Gott sein. Für eine gottlose
       Gesellschaft aber sind wir sowieso noch nicht reif.
       
       Die Frage ist, was und wer in das Vakuum tritt, das die dahinscheidenden
       Kirchen hinterlassen. Wird Elon Musk und seine Techreligion den Petersdom
       zum Hauptsitz machen? Werden die Querdenker in den Kölner Dom einziehen?
       Sollen die Steuern künftig nicht der Kirche, sondern dem Klangschalenyogi,
       dem Großstadtshrink oder dem Preppertoni überwiesen werden? Sicher, ob man
       Raver oder Reichsbürger wird, an wen man sein Seelenheil knüpft und wen man
       dafür bezahlt, entscheidet jeder selbst. Dass die komplette
       Individualisierung alternative Kirchen hervorbringt, die nicht ganz so
       harmlos sein könnten, wie die Klangschale klingt, ist aber alles andere als
       ausgeschlossen.
       
       9 Apr 2023
       
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