# taz.de -- Kita-Streik in Berlin: Allein mit 15 Kindern
       
       > Erzieher*innen der landeseigenen Kitas fordern vom Senat bessere
       > Arbeitsbedingungen. Am Donnerstag streiken sie wieder.
       
 (IMG) Bild: Wortspiel mit Finanzsenator: Beim Kita-Streik fordern Erzieher*innen Verhandlungen mit Berlins Hüter des Geldes, Stefan Evers
       
       BERLIN taz | Es ist Freitagmorgen in einer kommunalen Kita im Berliner
       Süden. Ein kleines Mädchen mit wachen Augen springt in den Raum und begrüßt
       die Erzieherin mit einer festen Umarmung. Beim Lachen zeigen sich Grübchen
       in ihren Wangen. Die Erzieherin, die für diesen Text Nina Schröder heißen
       soll, spricht mit der Kleinen, aber sie antwortet nicht. Sie spricht kein
       Deutsch. Im nächsten Augenblick wird Nina woanders gebraucht: Ein kleiner
       Junge weint schon beim Bringen an der Eingangstür. Nina nimmt ihn auf den
       Arm. „Mama kommt nach dem Schlafen, okay?“, beruhigt sie ihn. Es dauert ein
       paar Minuten, bis die Erzieherin zum Essenswagen hinten im Raum zurückgehen
       kann. Dort war sie gerade dabei, das Frühstück vorzubereiten.
       
       In den vergangenen zwei Wochen wurden die 282 landeseigenen Kitas für
       insgesamt vier Tage bestreikt. Die Gewerkschaft Verdi hatte zum Streik
       aufgerufen, [1][um den Senat an den Verhandlungstisch für einen
       Tarifvertrag „Pädagogische Qualität und Entlastung“ zu bringen]. Laut Verdi
       beteiligten sich täglich 3.000 Erzieher*innen an dem Streik, zwei
       Drittel der landeseigenen Kitas seien geschlossen gewesen. Inhalt des
       Zusatz-Tarifvertrags soll ein [2][verbesserter Fachkraft-Kind-Schlüssel
       sein, der im Gegensatz zum jetzigen Personalschlüssel auch Personalausfall
       durch Urlaub, Weiterbildung und Krankheit berücksichtigt].
       
       Nina schneidet eine Gurke in Scheiben. „Aus pädagogischer Sicht sollten die
       Kinder ihr Obst und Gemüse fürs Frühstück selbst schneiden, aber so geht es
       schneller! Schließlich bin ich allein“, erklärt sie. Die Erzieherin ist
       spät dran mit der Frühstücksvorbereitung. „Setzt euch alle schon mal hin!“,
       fordert sie die Kinder auf. Während sie noch die Brötchen aufschneidet,
       bedienen sich die Kinder am hinteren Tisch schon mal an der Wurst.
       Stillsitzen fällt den 3- bis 6-Jährigen schwer. Nina ermahnt die Kinder,
       leise zu sein. Einmal, zweimal, viele Male. Nach dem Frühstück verlässt sie
       den Raum, um den Wagen mit dem dreckigen Geschirr in die Küche zu bringen.
       Die Kinder sind in dieser Zeitspanne unbeaufsichtigt – genauso, wenn Nina
       auf die Toilette geht. Die Erzieherin hofft, dass die 6-Jährigen dann auf
       die Kleineren mit aufpassen.
       
       Auf dem Papier betreuen 2,5 Fachkräfte die 15 Kinder der Gruppe. In der
       Praxis ist eine Kollegin seit einem Jahr krank. Als klar war, dass auch
       ihre zweite Kollegin länger ausfallen würde, hat Nina von Teilzeit in
       Vollzeit gewechselt. Was als kurzfristiges Aufstocken für vier Wochen
       geplant war, dauert nun schon länger als ein halbes Jahr. Weil entweder
       Nina oder ihre Kollegin im Urlaub, krank oder in einer Fortbildung war,
       haben sie nur tageweise zusammengearbeitet. Die meiste Zeit betreut
       entweder Nina oder ihre Kollegin die 15 Kindern allein.
       
       ## Forderungen nach festen Zeiten für Aufgaben
       
       Neben besserer Betreuung fordert Verdi eine festgelegte Zeit für Aufgaben
       wie Vorbereitung und Dokumentation, einen Belastungsausgleich und
       Verbesserungen in der Ausbildung. Das sind laut Verdi
       Gewerkschaftssekretärin Tina Böhmer [3][Maßnahmen, die den Beruf der
       Erzieher*in wieder attraktiv machen können] und die die pädagogische
       Qualität in den Kitas sichern. Es brauche eine echte Trendwende, sagt
       Böhmer. „Viele angehende Erzieher*innen brechen ihre Ausbildung ab oder
       verabschieden sich schnell in andere Berufe, weil die Arbeitsbedingungen
       schlecht sind“, sagt sie. „Dazu kommt, dass ein großer Teil der
       Beschäftigten in Teilzeit arbeitet, um die persönliche Gesundheit zu
       schützen.“ Wären die Arbeitsbedingungen besser, würden auch mehr
       Erzieher*innen in Vollzeit arbeiten, meint Böhmer.
       
       Die Senatsverwaltung für Finanzen lehnt Verhandlungen darüber mit der
       Begründung ab, dass die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) keine eigenen
       Tarifverträge erlaube. Dieses Argument lässt Böhmer nicht gelten. „Wo ein
       politischer Wille ist, ist auch ein Weg“, sagt sie. Beispiele für
       Einzelverhandlungen gebe es viele. „Die Frage ist: Wie viel ist uns
       frühkindliche Bildung wert?“
       
       „Es gibt heute viel mehr Kinder mit emotionalen und motorischen Defiziten“,
       erklärt Nina. „Die Kinder wissen nicht, wie sie ihre Gefühle äußern
       können.“ Inzwischen seien die Kinder in der Kita, die in frühkindlicher
       Phase von den Kontaktverboten in der Coronapandemie geprägt wurden. Es
       fehle das Personal, um deren Bedürfnisse aufzufangen. Wie ihre
       Kolleg*innen fordert sie kleinere Gruppen und mehr Personal.
       
       Nina war schon am dreimonatigen Kita-Streik 1990 beteiligt. Sie hat
       erfahren, wie die Ansprüche an ihren Beruf in den Jahrzehnten gestiegen
       sind. Den Erzieher*innen in ihrer Kita werden pro Woche zwei Stunden
       für Schreibarbeit zugeteilt. „Wenn eine Erzieherin alleine ist, kann sie
       sich diese Zeit aber nicht nehmen“, sagt Nina. Zur Schreibarbeit zählt:
       Fragenkataloge zu Entwicklungsschritten beantworten, Elterngespräche
       vorbereiten, Fotos für die Sprachlerntagebücher machen, drucken, einkleben,
       mit jedem einzelnen Kind besprechen und das Gesagte verschriftlichen –
       Aufgaben, die alle in Anwesenheit der Kinder erledigt werden müssen, neben
       Vorbereitungen fürs tägliche Programm und dem Staubwischen auf den Regalen.
       „Für mich sind die Kinder wichtiger. Ich möchte mich nicht hier hinsetzten
       und die Kinder ignorieren, um administrative Arbeit zu erledigen“, sagt
       Nina. Was bleibe, sei das schlechte Gewissen, ihren Aufgaben nicht gerecht
       zu werden.
       
       ## Tarifabschluss soll sich auch auf die freien Träger auswirken
       
       Guido Lange vom Landeselternausschuss Kita (LEAK) kritisiert das Timing der
       Streiks. Er fände es richtig, wenn Verdi die Forderungen in den
       Verhandlungen über Kitafinanzierung im kommenden Jahr stellen würde. Dort
       verhandelte Regelungen würde für alle Berliner Kitas gelten und nicht nur
       für die Eigenbetriebe. Lange geht davon aus, dass die Mehrheit der
       betroffenen Eltern den Streik nicht unterstützt. Die
       Verdi-Gewerkschaftssekretärin Tina Böhmer dagegen meint, dass die meisten
       Eltern die Gründe der Streiks verstehen. „Auch ohne Streik werden
       Kita-Gruppen kurzfristig geschlossen, weil zu wenig Personal da ist“, sagt
       sie. An der Verdi-Aktion, Beschwerde-E-Mails an den Regierenden
       Bürgermeister Kai Wegner (CDU) zu senden, hätten mehrere Hundert Eltern
       teilgenommen. Von einem Tarifabschluss erhofft die Gewerkschaft sich eine
       Leuchtturmwirkung, die auf die freien Träger ausstrahlt.
       
       Nach der Morgenrunde geht es zum Spielen raus in den Garten. Hier gibt es
       Klettergerüste, Schaukeln und einen Bolzplatz. In den Himmel über den
       Kindern ragt ein Hochhaus mit Satellitenschüsseln auf den Balkonen. Draußen
       muss Nina ein Mädchen besonders im Blick behalten: Das 4-jährige Mädchen,
       das am Morgen noch so fröhlich wirkte, fängt immer wieder an zu weinen. Sie
       ist nicht hingefallen und hatte keinen Streit mit einem anderen Kind – sie
       sitzt einfach nur da und weint. Keiner weiß, warum. Niemand spricht ihre
       Sprache. Nina setzt sich neben sie, nimmt das Mädchen in den Arm und lässt
       sie kräftig ins Taschentuch schnäuzen. Die Tränen trocknen und das Mädchen
       springt auf, um spielen zu gehen.
       
       Ein Junge kommt angelaufen und berichtet aufgeregt, er sei beim Ballspielen
       ins Gesicht geschlagen worden. Nina geht zielstrebig auf den beschuldigten
       Jungen zu. Es sind keine Kinder aus ihrer Gruppe, aber sie ist da. Sie
       setzt sich hin. Der Junge erklärt auf Augenhöhe, was passiert ist. Er
       schaut dabei zu Boden und knetet seine Finger. Nina lässt ihm Zeit, um die
       richtigen Worte zu finden: „Ich habe ihn aus Versehen im Gesicht
       getroffen“, sagt er. Der Junge entschuldigt sich. Die Entschuldigung wird
       angenommen und beide Jungen rennen weg, um weiterzuspielen.
       
       Danach ist Mittagsruhe. Nina setzt sich auf den Boden und lehnt sich an die
       Wand. Die Kinder liegen um sie herum auf ihren Matten. Zum ersten Mal heute
       ist es leise im Gruppenraum. Nina liest eine Geschichte vor. Danach fordert
       sie die Kinder auf, 10 Minuten still zu bleiben. Nur ein gelegentliches
       Rascheln ist zu hören. Jetzt macht sie auch für einen Momente die Augen zu.
       Mehr Pause wird sie an diesem Tag nicht bekommen.
       
       ## Die Bildungssenatorin zeigt sich gesprächsbereit
       
       Ein erstes Gespräch zu Arbeitsbedingungen und geforderten Entlastungen für
       das pädagogische Personal gab es bereits zwischen Verdi und der
       Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU). „Noch keine Verhandlung,
       aber ein Anfang“, sagt Gewerkschaftssekretärin Böhmer optimistisch. Am
       selben Tag kündigte Verdi ein Gespräch mit Wegner an. Auf die
       taz-Nachfrage, ob der für Tarifverhandlungen zuständige Finanzsenator
       Stefan Evers (CDU) nun auch in einen Dialog mit Verdi eintritt, hieß es, er
       stehe laufend mit Verdi und anderen Gewerkschaften in Kontakt.
       
       Nina hat die Nachricht erhalten, dass Verdi für kommenden Donnerstag zum
       nächsten Streik aufgerufen hat. Bis zur Rente bleiben ihr noch 10 Jahre.
       „So lange halte ich die Lautstärke nicht aus“, sagt sie. Sie hat in
       verschiedenen Berufen gearbeitet. Sie ist eine Rückkehrerin, die nun über
       eine erneute Abkehr vom Beruf der Erzieherin nachdenkt. „Ich kenne die
       Vorzeichen bei mir: ein nervöses Zucken im Auge, ein Pfeifen im Ohr. Dann
       weiß ich, dass ich die Reißleine ziehen muss.“ Anfang des Jahres hat Nina
       einen großen Präsentkorb mit Feinkost von den Eltern geschenkt bekommen.
       „Als Dankeschön dafür, dass ich hier die Stellung gehalten habe und so gute
       Arbeit leiste, dass die Kinder gerne in die Kita kommen. So eine
       Anerkennung habe ich noch nie bekommen“, sagt sie sichtlich gerührt.
       
       Als die Kinder abgeholt werden, informiert sie die Eltern an der Tür über
       den kommenden Streiktag. „Ist die Kita dann ganz zu?“ fragt eine Mutter
       vorsichtig. „Ja, ganz zu“, antwortet Nina. Die Mutter seufzt nur leise.
       
       18 Jun 2024
       
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