# taz.de -- Klima-Urteil des EGMR: Sie haben gewonnen
       
       > Klimaschutz ist ein Menschenrecht und Verbände können es einklagen. Über
       > ein Gerichtsurteil mit Signalwirkung über die Schweiz hinaus.
       
 (IMG) Bild: Haben Grund zu feiern: Rosmarie Wydler-Wälti (links) und ihre Mitstreiterinnen
       
       Rosmarie Wydler-Wälti kann immer noch kaum glauben, dass es vorbei ist –
       und geklappt hat. Seit Jahren verklagt die mittlerweile 74-jährige
       Schweizerin aus Basel ihre Regierung, weil die zu wenig Klimaschutz
       betreibe. Immer wieder wiesen Schweizer Gerichte die Klagen zurück. Jetzt
       [1][hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg]
       entschieden: Tatsächlich tut die Schweiz zu wenig, hält nicht einmal ihre
       selbst gesetzten Ziele ein – und verletzt so die Menschenrechte.
       
       „Wir warten immer, bis die EU Erfahrungen gemacht hat, und dann gucken wir
       mal, ob wir nachziehen“, kritisiert Wydler-Wälti ihre Regierung. Dabei ist
       sie aber keine Einzelkämpferin, sondern Co-Präsidentin der
       Klimaseniorinnen, eines Vereins, dem sich mittlerweile 2.000 Schweizerinnen
       angeschlossen haben. Das Durchschnittsalter: 73 Jahre. Es waren die
       Klimaseniorinnen, die sich erfolglos durch die Schweizer Gerichte
       geklagt hatten, nun aber die Straßburger Richter*innen überzeugen
       konnten.
       
       „Ich hab im Gerichtssaal immer den Anwalt angeschaut, weil ich von diesem
       juristischen Englisch nicht viel verstanden habe, und er lehnt sich zu mir
       und sagt: Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen, das ist wirklich
       Maximalgewinn“, erinnert sich Wydler-Wälti an den Dienstag in Straßburg.
       
       Die Entscheidung dürfte Wirkung weit über die Schweiz hinaus entfalten. Zum
       ersten Mal hat ein Gericht etabliert: Klimaschutz ist ein Menschenrecht,
       und Klimaschutzverbände können ihn einklagen. Im Umkehrschluss begehen
       Regierungen Menschenrechtsverletzungen, wenn sie den Klimaschutz zu stark
       vernachlässigen.
       
       ## Folgen über die Eidgenossenschaft hinaus
       
       Wann Letzteres der Fall ist, ist natürlich Auslegungssache, schließlich
       gibt es keine konkrete internationale Einigung darüber, nach welchem
       Prinzip die Welt die Klimaschutzpflichten aufteilt, welchem Staat
       beispielsweise welche Menge an Treibhausgasemissionen zusteht. Aber im
       Grundsatz ist nun klar, dass die Europäische Menschenrechtskonvention auch
       irgendwo zum Klimaschutz verpflichtet.
       
       Eigentlich liegt das nahe. Schließlich bewirkt die Menschheit durch den
       Ausstoß von Treibhausgasen aktiv, dass das Wetter etwa durch Hitze oder
       Fluten tödlicher wird, dass Lebensraum durch den Meeresspiegelanstieg
       knapper wird, dass Ernten [2][durch Dürre, Stürme oder Starkregen]
       vernichtet werden. Ein sicheres und würdevolles Leben wird durch die
       Klimakrise schwieriger. Konkret erwähnt wird das Klima in der Europäischen
       Menschenrechtskonvention aber nicht. Das liegt daran, dass sie von 1950
       stammt. Abseits kleinster Forschungsnischen fand damals noch keine Debatte
       über die Wirkung von Treibhausgasen statt.
       
       Es war entsprechend nicht ganz sicher, wie der Menschenrechtsgerichtshof
       mit dem Thema umgehen würde. Durch die Klage der Klimaseniorinnen hat er
       nun festgestellt, dass Artikel 8 der Menschenrechtskonvention, das „Recht
       auf Achtung des Privat- und Familienlebens“, auch einen Anspruch von
       Bürger*innen auf Schutz vor den schädlichen Auswirkungen des
       Klimawandels umfasst.
       
       Das Urteil sei eingeschlagen wie eine Bombe, erzählt Rosmarie Wydler-Wälti,
       sie bekomme Anfragen von überall auf der Welt. Mit Medien aus Kolumbien,
       aus den USA, aus Südkorea habe sie schon gesprochen – dabei sind das nicht
       einmal Mitgliedstaaten des Europarats, die die Europäische
       Menschenrechtskonvention bindet.
       
       ## Lange nicht ernst genommen
       
       Angefangen hatte ihre Arbeit an der Klimaklage schon 2015. Damals gewann
       die Organisation Urgenda vor einem Gericht in den Niederlanden – und die
       niederländische Regierung wurde zu mehr Klimaschutz verurteilt.
       
       Die Umweltschützer*innen von Greenpeace in der Schweiz wollten eine
       ähnliche Klage auf den Weg bringen. Bloß, wer ist klagebefugt? Eine
       besondere Betroffenheit durch die Regierungspolitik musste nachgewiesen
       werden. Schwierig bei einem Thema wie der Klimakrise, das wirklich alle
       betrifft. Doch Studien zeigten eben: Ältere Menschen und speziell Frauen
       sterben besonders oft in Hitzewellen. Und so ging Greenpeace auf die Suche
       nach engagierten Frauen, die klagen könnten. Wydler-Wälti war damals Teil
       des Netzwerks Großmütterrevolution, das zu verschiedenen Themen politisch
       arbeitet. Zusammen mit zunächst vier weiteren Frauen gründete sie die
       Klimaseniorinnen und fing an zu klagen.
       
       „Wir wurden ja erst mal gar nicht ernst genommen“, sagt Wydler-Wälti. Wobei
       sie selbst diese Woche noch eine Nachricht in abschätzigem Tonfall mit der
       Frage bekommen habe, ob sie mit dem Rollator nach Straßburg gekommen seien.
       „Ganz peinlicher, primitiver Quatsch von Männern“, findet die Aktivistin.
       Ihr Erfolg vor Gericht ebnet den Weg für Klagen gegen die 46
       Mitgliedstaaten des Europarats. Das Urteil liest sich wie eine Anleitung
       dazu.
       
       Jetzt ist nämlich geklärt, wer den Klimaschutz einklagen kann. Im Falle der
       Klimaseniorinnen war das ihr Verein, nicht die Frauen als Privatpersonen.
       Das ist wiederum nicht unbedingt naheliegend. Haben Vereine mehr
       Privatleben als Privatpersonen? Sind Vereine mehr vom Klimawandel betroffen
       als Menschen? Vermutlich sind die Richter*innen pragmatisch an die Sache
       herangegangen, um eine Flut unkoordinierter Individualklagen zu verhindern.
       
       ## Klimaschutz als Lebensaufgabe
       
       Es ist allerdings auch nicht so, dass nun jeder Klimaschutzverband nun
       einfach direkt nach Straßburg ziehen kann. Die Richter*innen haben
       deutlich gemacht, dass der Weg durch die nationalen Instanzen zuvor
       unerlässlich ist – wie ihn die Schweizerinnen auf sich genommen hatten.
       Eine parallel entschiedene Klimaklage portugiesischer Jugendlicher, die das
       nicht getan hatten, schmetterten die Straßburger Richter*innen ab. Die
       Portugies*innen hatten zudem versucht, nicht nur die eigene Regierung
       zu verklagen, sondern gleich mehr als 30 europäische Staaten auf einmal –
       ebenfalls nicht möglich, urteilte das Gericht.
       
       Es ist nicht das erste Mal, dass Rosmarie Wydler-Wälti sich an ökologischem
       Protest beteiligt. Schon in den siebziger Jahren verhinderte sie mit vielen
       anderen Schweizerinnen den Bau des Atomkraftwerks Kaiseraugst bei Basel.
       „Da hat es klick gemacht. Da habe ich gemerkt, dass man sich wehren muss“,
       erzählt sie. Deswegen erfülle sie auch der Kampf der Klimaseniorinnen: „Das
       ist wirklich meine Lebensaufgabe, meine Mission.“
       
       13 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
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