# taz.de -- Klima lässt Weichheit nicht zu: Weniger Sorgen dank Gelato
       
       > Den Charakter der Sizilianer formte nicht nur die Geschichte, sondern
       > auch die alljährlichen Hitzemonate. Die Vita wieder dolce macht nur eins:
       > Eis!
       
 (IMG) Bild: Auslage einer Gelateria: Der Ursprung des gelato, liegt genau dort, wo das Leben am härtesten ist, auf Sizilien
       
       Als ich vor etwas mehr als einem Jahr nach Rom zog, schenkte ein Freund aus
       Berlin mir „Der Leopard“ von Giuseppe Tomaso di Lampedusa. So wie
       wahrscheinlich die meisten hatte ich den Film von Visconti gesehen. Ich
       hatte Alain Delon und Claudia Cardinal schön gefunden und die Kostüme, das
       Setting und die Dekadenz geliebt und dachte deshalb jedes Mal, wenn ich an
       dem Buch in meinem Regal vorbeilief, dass ich es ja kenne und es nicht zu
       lesen brauche.
       
       Vor zwei Wochen habe ich mich glücklicherweise umentschieden. Vielleicht
       war es der Sommer, der nun gnadenlos auf uns runterbrennt und die geistige
       Reise nach Sizilien zu einer minderen Anstrengung macht. Vielleicht war es
       Inspirationsmangel oder eben doch die Neugierde. Wie auch immer: Es lohnt
       sich. Natürlich.
       
       Die Geschichte kennt man, darauf will ich hier gar nicht eingehen. Was mir
       im Kopf geblieben ist, sind zwei Details, ein Satz und eine etwas längere
       Ausführung, die auch unabhängig von dieser Story eines Zeitwandels Sinn
       machen und, so scheint es mir zumindest, bis heute stimmen. Der Satz
       besagt, mehr oder weniger lose rekonstruiert, die Italiener seien, ganz
       anders als etwa die Franzosen, diese ewig protestierenden
       Auf-die-Barrikaden-Gänger, [1][ein Volk, dass sich arrangiert statt
       rebelliert.]
       
       Die zweiseitige Ausführung erklärt, der Charakter der Sizilianer habe sich
       zwar durch die Geschichte geformt, durch die vielen Besatzungen, diversen
       Völker und Kulturen, die auf dieser Insel Einfluss genommen haben, sei aber
       vor allem auch durch etwas wesentlich Banaleres beeinflusst worden: das
       Wetter.
       
       Durch die rauen klimatischen Bedingungen, die keine Weichheit zulassen. Die
       sechs Monate Hitze, die sich anfühlen, als würde es ganz biblisch Feuer
       regnen, das grelle Licht, das einen fast erblinden lässt, die Regenstürme,
       die Überschwemmungen, die Tatsache, dass man dort, wo man kurz zuvor noch
       verdurstete plötzlich ertrinken kann. Kurz: Dass die vita nur mäßig dolce
       und insgesamt eher hart und schwierig ist.
       
       ## Das Leben ist für viele hart
       
       Auf Sizilien gilt dies sicher fünffach, so ganz anders ist es an anderen
       Orten Italiens aber auch nicht. Zumindest nicht, wenn man von Rom ab
       südwärts schaut: Das Leben ist für viele Leute hart, weder Natur noch
       Politik machen es ihnen einfach und doch scheint die Fähigkeit, es sich
       irgendwie schön zu machen statt sich immer nur zu grämen, unerschütterlich.
       
       Ich frage mich oft, wie diese beiden Aspekte zusammengehen, wie die Seele
       die Härte abrollt und Weichheit produziert. Ich glaube eine von vielen
       potenziellen Antworten gefunden zu haben. Sie ist ebenso banal oder trivial
       wie das Wetter bei Tomasi di Lampedusa, vielleicht ist sie sogar ernsthaft
       bescheuert, doch irgendetwas daran stimmt. Zumindest glaube ich das. Ich
       glaube, das Eis, das gelato, spielt eine Rolle.
       
       Die Idee dazu kam mir vor einigen Tagen auf der Straße, paradoxerweise an
       einem Ort, der an sich kein bisschen hart ist: Ich wohne in einem Viertel,
       in dem viele Botschaften stehen, weshalb man hier vielen adrett gekleideten
       und fast französisch ernst dreinschauenden Herren begegnet. Meist
       stolzieren sie zu dritt oder viert durch die Straßen. Sie tragen stets
       Anzug und Krawatte, auch bei fünfunddreißig Grad, wahrscheinlich sterben
       sie innerlich und wirken sicher auch deshalb wenig sympathisch und starr.
       Zumindest ist das so, wenn man sie um neun Uhr morgens trifft
       
       Am Nachmittag sind diese Männer meist wie ausgewechselt. Dann stehen sie
       nämlich vor dem Eisverkäufer, halten einen Becher mit kalten bunten Kugeln
       in der Hand und haben plötzlich die Ausstrahlung eines Kindes, das man in
       ein Erwachsenenkostüm gepackt hat. Es wirkt, als würde die Kälte des
       Desserts in ihnen Wärme produzieren, als würden ihre Sorgen, Ambitionen und
       emotionalen Verhärtungen mit jedem Löffel ein bisschen mehr von ihrem Sein
       herunterschmelzen und zu Boden tropfen.
       
       Sie wirken auf einmal leichter, beweglicher, in der Lage, Problemen
       tänzelnd auszuweichen. Nun mag das weit hergeholt wirken, ein Aspekt
       bestärkt mich allerdings weiterhin in meinem Glauben: Der Ursprung des
       gelato, liegt genau dort, wo das Leben zumindest meteorologisch am
       härtesten und die Fähigkeit irgendwie zurechtzukommen vielleicht am
       ausgeprägtesten ist. Auf Sizilien, auf dem Ätna.
       
       15 Jun 2023
       
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