# taz.de -- Nationalliteratur in Frankreich: Der Andere ist der Feind
       
       > Zwei Romane proben die literarische Rückschau auf das 20. Jahrhundert in
       > Europa: „Limonow“ und „Die französische Kunst des Krieges“. 
       
 (IMG) Bild: „Was bedeutet es, französisch zu sein“, fragt einer der Erzähler nach 600 Seiten.
       
       „Ich wollte niemals zurückschauen.“ In der Banlieue von Lyon sitzt
       Hauptmann Victorien Salagnon neben seiner Frau Eurydike und erzählt in drei
       Kriegskapiteln Frankreichs Roman des 20. Jahrhunderts. Unten in den Straßen
       bereitet Sarkozys Staat seinen Krieg gegen die Vorstädte vor. Der alte
       Soldat ist im Reinen mit sich. Er hat überlebt und seine Frau aus Algerien
       über den Acheron des Mittelmeers geholt.
       
       Die Rückschau aufs Frankreichs Kolonialkriege überträgt er in Alexis Jennis
       Roman „Die französische Kunst des Krieges“ nun einem Jüngeren. Für so viel
       Nationalliteratur bekam der 100-jährige Verlag Gallimard im Herbst 2011 den
       wichtigsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt.
       
       Was Pech war für Emmanuel Carrère, der das routiniertere Buch als Jenni
       schrieb. Aber eben nur im Verlagshaus P.O.L. Außerdem lebt sein Held Eduard
       Limonow in der Moskauer Banlieue und ist kein französischer Nationalheld,
       sondern russischer Faschist. Carrère musste sich mit dem Prix Renaudot
       zufrieden geben. Literaturpreise in Frankreich gehorchen einer nationalen
       Logik, die Jenni perfekt bediente: „Was bedeutet es, französisch zu sein“,
       fragt der Erzähler nach 600 Seiten Krieg und Verbrechen im Namen der
       „nation universelle“.
       
       Sein Held hüllt sich in Schweigen, und so beantwortet er seine Frage in
       einem perfekten Zirkelschluss selbst: Franzose zu sein sei „der Wunsch,
       französisch zu sein und die Erzählung dieses Wunschs auf Französisch“. In
       zwei historischen Romanen darf das deutsche Publikum damit noch einmal aus
       französischer Perspektive auf das Europa des vergehenden 20. Jahrhunderts
       schauen.
       
       ## Hochmütiger Manneskraft
       
       Und einmal mehr sitzt der Leser und staunt – fünf Jahre nach Littels
       „Wohlgesinnten“ – vor so viel hochmütiger Manneskraft. Wie einst Odysseus
       überziehen der Russe Limonow und der Franzose Salagnon die Welt mit List
       und Gewalt. Ihr Ego stärken sie in nationalen Wir-Gefühlen und treu wie
       Sancho Pansa folgen ihnen Jenni und Carrère auf dem Fuß. Anders als Jenni
       hat sich Carrère dabei einer realen Person angenommen.
       
       Wenn Limonow nicht gerade auf den Straßen der Moskauer Innenstadt für
       Meinungsfreiheit demonstriert, trifft man den 69-jährigen Helden heute
       voraussichtlich in seiner Moskauer Mietwohnung am Rande der Stadt – mit
       Spitzbart und asketischem Körperbau, eine sechzehnjährige Geliebte im Arm.
       
       Auch seine Romanbiografie hat er schon sybillinisch kommentiert. Sein
       Lebensziel, Romanfigur zu werden, hat er damit erreicht; das andere, Putins
       Nachfolge, bleibt ihm voraussichtlich versagt. Aufgewachsen in armseligen
       sowjetischen Verhältnissen, wusste Limonow sich früh zu Großem berufen.
       Carrère beschreibt ihn als begabt, wendig und als das Gegenteil eines
       Parvenüs. „Lieber Delinquent als Dissident“ ist seine Devise, er hasst den
       Kapitalismus und Profiteure wie Chodorkowski.
       
       Sein Ego fordert Macht, Frauen, ein starkes Russland, jegliche Art des Sex
       und Punk – in dieser Reihenfolge. Das Buch verkauft sich bestens, und sein
       Autor, Mitglied der hochzivilisierten Pariser Intelligenzia und Sohn der
       weißrussischen Aristokratin Hélène Carrère d’Encausse (Generalsekretärin
       der Académie française), macht aus seiner Faszination für Limonow gar
       keinen Hehl: Hier ist sein Gegenentwurf zur laschen Zivilgesellschaft à la
       française.
       
       ## „Nichts ist fiktiver als die Wirklichkeit“
       
       Getreu dem Grundsatz „Nichts ist fiktiver als die Wirklichkeit“ folgt er
       Limonow durch den Moskauer Underground, die russische Dissidentenszene im
       New York, die literarischen Erfolgsjahre in Paris. Die Welt der
       Avantgardeliteratur spült Limonow hoch. Mit seinen Bukowski’schen
       Selbstporträts gelingt ihm der Aufstieg aus dem Nachtasyl in die
       exklusivsten Zirkel.
       
       Carrères „Limonow“ wird über dieser Erzählung zum literarisch-politischen
       „Who is who“ des 20. Jahrhunderts: Von Anna Achmatowa bis Philippe Sollers
       kein Name (außer Schalamow), der nicht gefeiert oder verworfen
       (Solschenizyn) wird. Doch die Literatur reicht dem Russen auf Dauer nicht.
       In Serbien kämpft er aufseiten des „fragwürdigen Karadzic“ (Carrère),
       träumt von Großrussland, besingt die Gewalt.
       
       Carrère hält ihm zögernd die Treue. Zumindest der Faschist Limonow,
       befindet er in einem Interview, sei nicht sein Problem. Zumindest sei er
       „nicht eigennützig, nicht scheinheilig, nicht feige“ – als Faschist sei er
       ja „noch nicht unbedingt ein Lump“. Carrère schreibt sich damit – jenseits
       von Gut und Böse – in einen traditionsreichen französischen
       Authentizitätskult ein.
       
       1994 kehrt Limonow nach Russland zurück, wo er Literatur und Politik nun
       endgültig vermischt, die rechtsextremistische Nationalbolschewistische
       Partei gründet und als Gefangener (mindestens so stolz wie die Pussy Riots)
       für vier Jahre in Putins Gulag einreitet. Das alles ist auf 400 Seiten
       gekonnt runtergeschrieben: eine hochspannende Geschichte des europäischen
       20. Jahrhunderts „von unten“ – gegenüber der einiges Misstrauen angebracht
       ist.
       
       ## Literarisches Handwerk, politisch korrekt
       
       Ganz anders Jennis französische Kriegskunst: literarisches Handwerk,
       politisch korrekt. Die Rahmenhandlung, großspurig „Kommentar“ genannt,
       spielt im Lyon dieser Jahre. Der Erzähler, ein namenloser Aussteiger
       mittleren Alters, schreibt die Soldatenbiografie seines Protagonisten
       Victorien Salagnon, geboren 1926.
       
       Im Gegenzug unterrichtet Salagnon ihn in der Kunst der chinesischen
       Tuschzeichnung. Es ist das Geburtsjahr Limonows, 1943, in dem Salagnon
       Soldat wird. Als 17-Jähriger zieht er in den Krieg gegen die Nazis, als
       andere Länder diesen Krieg für Frankreich schon fast gewonnen haben. Was
       für Limonow eine Stilfrage ist – der Ausnahmezustand –, wird für Salagnon
       Überlebensmotto: Gründe deine Lebensstrategie auf die Annahme, dass der
       Andere dein Feind ist.
       
       „Der Andere“, das sind die aufständischen Subjekte der französischen
       Republik in Vietnam und Algerien. Salagnon bleibt also gewissermaßen zu
       Hause und wird zur Personifizierung eines Kolonialreichs, das sich in einem
       20 Jahre währenden „drôle de guerre“ abhanden kommt. Während die Geschichte
       der Deutschen nach 45 als Prozess ihrer Zivilisierung niedergeschrieben
       wird, taumelt Frankreich zeitgleich in eine kulturelle Identitätskrise, die
       sich mit jedem verlorenen Krieg weiter verstärkt.
       
       Erholt hat es sich von seinen Demütigungen und Verbrechen bis heute nicht.
       1958 kehrt mit de Gaulle Frankreichs „Romancier an die Spitze des Staates
       zurück“, so notiert Alexis Jennis Erzähler bitter, und breitet – wie 1944
       über die Kollaboration – nun auch über die Epoche des Kolonialreichs ein
       wortreiches nationales Schweigen: „Wir können froh sein, seine
       Protagonisten geworden zu sein.“
       
       ## Der Name der Republikheiligen
       
       Die Überlebenden, die Algerien-Franzosen, die geflüchteten algerischen
       Kollaborateure, ziehen in die Banlieues und ducken sich weg. Hier regiert
       Le Pen, und Salagnons treuester Gefolgsmann, Mariani, verbarrikadiert sich
       gegen die Multikultur in den Straßen. Taub, wer aus seinem Namen nicht
       „Marianne“ heraushört, den Namen der Republikheiligen. Für sie ziehen die
       Marianis einmal mehr in den Krieg – gegen einen Dschungel, der tief in
       ihrem Innern wohnt.
       
       „Gut ist in Frankreich gar nichts“, möchte man so gern protestantisch
       kommentieren. Denn in Algerien hat auch der gute Soldat Salagnon den
       letzten moralischen Limes überschritten. Doch auf die Gretchenfrage seines
       Biografen: „Herr Salagnon, haben Sie gefoltert“, lächelt der Held nur gütig
       und weicht der Frage ins Kollektivsingular aus: „Es gab Schlimmeres“,
       schlimmer sei gewesen, dass „es uns an Menschlichkeit fehlte“.
       
       Salagnon, der Soldat, dem die Zeichenkunst als Entlastung dient, flüchtet
       sich ins Universelle, dem verbleibenden Vexierbild seines Imperiums. Im
       einzigen Lapsus seines Erzählers aber scheint eine andere Wirklichkeit auf.
       
       Nicht Salagnon nämlich lächelt die Gretchenfrage hier weg. Anstelle des
       Wortes „Salagnon“ erscheint – im Wahn, Wortwitz oder vielleicht einfach als
       Lapsus des berüchtigten Gallimard-Lektors und Breyvik-Apologeten Millet –
       „Salomon“, der Name des Vaters von Eurydike Salagnon, der einst im
       französischen Folterkeller von Algier seine Arbeit tat: „Salomon lächelt
       mich an.“ Die Rückschau, die Arbeit an seinen Mythen, scheint sich
       Frankreich nicht ersparen zu können.
       
       Eduard Carrère: "Limonow". Aus dem Französischen von Klaudia Hamm. Matthes
       & Seitz, Berlin 2012, 414 Seiten, 24,90 Euro 
       
       Alexis Jenni: "Die französische Kunst des Krieges". Aus dem Französischen
       von Uli Wittmann. Luchterhand Literaturverlag, München 2012 , 768 Seiten,
       24,99 Euro
       
       10 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Fritz von Klinggräff
       
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