# taz.de -- Parlamentswahlen in Frankreich: Wer reicht ihm die Hand?
       
       > Emmanuel Macrons Parteienbündnis Ensemble! verliert die Mehrheit bei den
       > Parlamentswahlen. Die Mitbewerber reagieren erst einmal schadenfroh.
       
 (IMG) Bild: Noch fröhlich: Frankreichs Präsident Macron nach seiner Stimmabgabe zu den Parlamentswahlen
       
       PARIS taz | Auf dem Papier sieht das so einfach aus: Da die Parteienallianz
       Ensemble! des Staatspräsidenten [1][Emmanuel Macron nach den
       Parlamentswahlen keine absolute Mehrheit mehr] hat, sondern nur noch eine
       kleine und relative, bildet sie halt eine Koalition mit Kräften aus der
       bisherigen Opposition! Eine „Mehrheit der Aktion“ nannte Premierministerin
       Élisabeth Borne dies am Sonntagabend hoffnungsvoll in ihrer ersten
       Stellungnahme zu den Resultaten der Stichwahlen, bei denen die Regierung
       ihre bisherige absolute Mehrheit verloren hat.
       
       Borne möchte versichern, dass die knappe Mehrheit für Macrons
       Parteienallianz Ensemble! nur eine relative Niederlage sei und keine
       „Ohrfeige für Macron“, wie viele Zeitungen im In- und Ausland auf ihrer
       Titelseite schrieben. Die Offerte einer Zusammenarbeit (an die Adresse:
       whoever wants) brachte allerdings nicht das erwartete Ergebnis. Die
       eventuell infrage kommenden Fraktionen reagierten zunächst lieber mit
       schadenfrohen Kommentaren zur schallenden Ohrfeige, die der Präsident von
       den Wahlberechtigten erhalten hat. Niemand zeigte sich offen für die Rolle
       des Lückenbüßers in einer Nationalversammlung ohne klare
       Mehrheitsverhältnisse.
       
       Denn im Unterschied zu parlamentarischen Demokratien in Deutschland oder
       Österreich sind Koalitionen zwischen Parteien, die sich sonst kritisieren
       oder bekämpfen, nicht üblich in Frankreich. Große Koalitionen – etwa von
       Sozialdemokraten, Liberalen und Konservativen oder „Regenbogenkoalitionen“
       von rechts mit Grünen – gelten in der Fünften Republik, seit General
       Charles de Gaulles Rückkehr an die Macht 1958, als verpönt. Er hat den
       Staat mit einem Präsidialsystem so eingerichtet, dass der vom Volk gewählte
       Staatschef in allen Bereichen entscheidet, das Parlament nickt brav dazu.
       Der Widerstand gegen die Regierungspolitik wird dadurch fast unweigerlich
       auf die Straße verlagert: Wer nicht einverstanden ist, der streikt,
       demonstriert und schmeißt Pflastersteine wie im Mai 68 oder bei der
       Protestbewegung der Gelbwesten. Politik ist eine Kampfsportdisziplin, die
       Konsenssuche wäre schon fast das Eingeständnis einer Niederlage.
       
       Darum zeigen sich heute weder die linke Volksunion NUPES (Neue Ökologische
       und Soziale Volksunion) und ihre einzelnen Bündnispartner (France insoumise
       um Jean-Luc Mélenchon, Sozialisten, Grüne und Kommunisten) noch das
       rechtsextreme Rassemblement National (RN) an irgendeiner Form der
       Kooperation interessiert. Die NUPES wird mit 142 Sitzen die stärkste
       Oppositionskraft und will diese Karte ohne Zugeständnisse ausspielen, um
       der Regierung bei dem Versuch, ihre unsozialen Reformen durchzusetzen, das
       Leben schwer zu machen.
       
       Marine Le Pens RN-Fraktion kann sich damit brüsten, den bisherigen „Cordon
       sanitaire“, den Schutzwall gegen die extreme Rechte, definitiv durchbrochen
       zu haben. Weder die Absprachen der anderen Parteien noch das französische
       Mehrheitswahlrecht haben dieses Mal verhindern können, dass RN mit 89
       Abgeordneten in etwa seinem Wähleranteil entsprechend in die
       Nationalversammlung einzieht.
       
       ## Mehr Attacken von rechts
       
       Marine Le Pen wollte ihre extremistische Partei aus der Isolation holen und
       sie „salonfähig“ machen. Dieses Ziel hat sie erreicht. Jetzt wird sie die
       ganze parlamentarische Kraft darauf verwenden, die zukünftige Regierung vor
       allem in der Sicherheits- und Migrationspolitik von rechts zu attackieren.
       Von einem „Kompromiss“ will sie bestimmt nichts wissen. Und tatsächlich
       fragt niemand sie, ob das immer noch „unberührbare“ RN gar zu einem
       Koalitionsvertrag bereit wäre.
       
       Auch die Konservativen, die bei den Wahlen gerade noch mal ihre Haut
       gerettet und mit 64 Sitzen den definitiven Abstieg in die Liga der
       Splitterparteien vermieden haben, wollen offiziell nichts von einer Rolle
       als Minderheitspartnerin in einer Koalition wissen. Der Vorsitzende der
       konservativen Partei Les Républicains (die unlängst noch mit Nicolas
       Sarkozy an der Macht war), Christian Jacob, hat zwar nicht alle Türen für
       spätere Diskussionen geschlossen, jedoch verspricht er dem
       Staatspräsidenten Macron, den er einer „destruktiven Politik“ bezichtigt,
       derzeit bestenfalls eine „konstruktive Opposition“.
       
       Seine Partei habe aber nicht die geringste Absicht, dem nun in Not
       geratenen Regierungslager des Präsidenten jeweils die nötigen Stimmen zu
       liefern, um bei den Abstimmungen der Nationalversammlung gerade noch die
       erforderliche Mehrheit zu erreichen. Es sei nicht an der bürgerlichen
       Opposition, den in Schwierigkeiten steckenden Macron zu „retten“. Auch der
       in Nizza wiedergewählte Le-Républicains-Abgeordnete Éric Ciotti, der den
       rechten Parteiflügel repräsentiert, meinte hämisch: „Ich glaube nicht, dass
       wir als Ersatzreifen für den Macronismus herhalten sollten.“
       
       „Wir haben unsere Kampagne als Opposition gemacht, wir sind und bleiben in
       der Opposition“, sagte mit Pokerfacemiene LR-Chef Jacob. Das wird kaum sein
       letztes Wort in Sachen Bündnispolitik sein. Hinter den Kulissen haben schon
       vor der Bekanntgabe der definitiven Wahlergebnisse die Verhandlungen
       begonnen. Dabei geht es um eventuelle Ministerposten in einer neuen
       Regierung, die trotz der geringen Sitzzahl für Macrons Allianz Ensemble!
       (246 von 577) eine Chance hätten, eine Vertrauensabstimmung zu überstehen.
       Wer an der Spitze eines nach rechts erweiterten Teams stehen könnte, ist
       dabei offen.
       
       ## Der Präsident äußert sich bisher nicht
       
       Theoretisch sind die Tage von Élisabeth Borne als Premierministerin bereits
       gezählt, doch kann es sich Präsident Macron wirklich politisch leisten, sie
       nur einen Monat nach ihrer Ernennung (womöglich durch einen Mann) zu
       ersetzen? Das würde ihm zweifellos als Beleidigung der
       Geschlechtergleichheit vorgeworfen. Borne war seit Édith Cresson 1991 die
       erste Frau auf dem Regierungschefposten. Da sie am Sonntag selbst in einem
       Wahlkreis in der Normandie als Abgeordnete gewählt wurde, wäre sie
       zumindest nicht als Politikerin arbeitslos, falls Macron zur Umbildung
       seiner Regierung im Extremfall einen Ersatzmann holen sollte. Zu seinen
       Plänen und auch zur Analyse der für ihn verheerenden Wahlergebnisse [2][hat
       sich der Präsident bisher nicht geäußert.]
       
       20 Jun 2022
       
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 (DIR) Rudolf Balmer
       
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