# taz.de -- Parteitag der britischen Liberalen: Höhenflug in Gelb
       
       > Großbritanniens Liberaldemokraten träumen vom politischen Durchbruch. Sie
       > bieten einen Anti-Brexit-Kurs und Überläufer aus anderen Parteien.
       
 (IMG) Bild: Lib-Dem-Führerin Jo Swinson auf dem Parteitagspodium am Dienstag
       
       BOURNEMOUTH taz | Vor dem International Business Centre neben den weißen
       Stränden von Bournemouth hat sich ein bekanntes Gesicht eingefunden: Steve
       Bray, der mit seinem blauen Zylinderhut normalerweise vor dem Parlament in
       London „Stop Brexit“ schreit. Auch heute trägt er sein Kostüm. Seine
       Anwesenheit verweist auf den Parteitag der Liberaldemokraten, die sich
       „Stop Brexit“ zu eigen gemacht haben.
       
       Die britischen Liberaldemokraten befinden sich im Höhenflug. Von [1][12
       Sitzen im Parlament bei den Wahlen 2017] sind sie nach Übertritten von 6
       Abgeordneten, je 3 von Labour und 3 von den Konservativen, auf heute 18
       Unterhaussitze angewachsen.
       
       Bei den [2][Europawahlen im Mai] überholten die „Lib Dems“ Konservative wie
       Labour und landeten mit 20 Prozent auf dem zweiten Platz. Sie haben sich
       mit Jo Swinson eine neue junge Parteichefin vom linken Flügel gegeben und
       sich auf ein unmissverständliches Bekenntnis zur EU festgelegt.
       
       Der Brexit ist dieses Jahr in Bournemouth besonders wichtig. Die
       Parteiführung bewegt sich weg vom bisherigen Einsatz für ein zweites
       Brexit-Referendum: Sie will jetzt einfach den Austrittsantrag bei der EU
       zurückziehen. „Revoke Article 50“ heißt das im Brexit-Jargon.
       
       Das ist gewagt. Niall Hodson aus Wearside im Nordosten Englands, einer
       Brexit-Hochburg, warnt, dass eine derartige Position wenig
       Kompromissbereitschaft aufweise. Rhian O’Connor aus Greenwich nennt es gar
       spiegelbildlich zum Kurs Johnsons. Der ehemalige Abgeordnete Simon Hughes
       kritisiert, die Partei baue Mauern statt Brücken.
       
       Michael Steed, 79-jähriger ehemaliger Professor für Politologie in
       Manchester und Parteimitglied seit 1958, sagt: „Ich war ein Kriegskind, und
       ich weiß, was ein uneiniges Europa bedeutet.“ Teile des Landes aber seien
       für die Liberaldemokraten kaum noch erreichbar. „Meine Furcht ist, dass es
       Millionen von unzufriedenen und erzürnten Menschen geben könnte, und zwar
       auf beiden Seiten. Deswegen bevorzuge ich ein zweistufiges Referendum mit
       verschiedenen Vorschlägen als besten Kompromiss.“
       
       Dennoch wird dem Antrag „Revoke Article 50“ mit großer Mehrheit zugestimmt.
       Die neue Position sei klar, beständig und unterscheidbar, lobt der von
       Labour zu den Liberaldemokraten übergelaufene Abgeordnete Chuka Umunna.
       
       ## Nur noch ein paar Prozentpunkte mehr …
       
       Großbritanniens ewige dritte Kraft sieht sich an der Schwelle zur Macht.
       Nur weitere 5 Prozentpunkte der Stimmen, und man könnte 200 Parlamentssitze
       holen, heißt es. Sogar 2 Prozentpunkte mehr brächten 100 Sitze.
       Meinungsumfragen sehen die Lib Dems derzeit bei rund 20 Prozent, nur knapp
       hinter Labour.
       
       Ummuna nennt die derzeitige politische Situation Großbritanniens „einen
       riesigen Kampf zwischen pluralistischer liberaldemokratischer Überzeugung
       und ausgetrocknetem Autoritarismus“.
       
       Bei einer Nebenveranstaltung warnt jedoch Politikwissenschaftler Tim Bale
       von der Organisation „UK in a Changing Europe“ vor Übereifer. Zum einen sei
       es keineswegs evident, dass die Liberaldemokraten bei Wahlen den Durchbruch
       schafften. Zum anderen müssten die Lib Dems vorsichtig mit ihren
       Versprechungen sein. Vor den Wahlen 2010 versprachen sie, die
       Studiengebühren abzuschaffen – dann gingen sie in eine Koalition mit den
       Konservativen und fielen um, woraufhin sie fast komplett aus dem Parlament
       flogen. Bale warnt, dass das Versprechen „Revoke Article 50“ der Partei
       ebenso auf die Nase fallen könnte.
       
       Und, fragt Bale, wie soll man verstehen, dass Jo Swinson jede Koalition mit
       Labour oder der Schottischen Nationalpartei ausschließt, nachdem die Lib
       Dems kein Problem damit hatten, von 2010 bis 2015 mit den Konservativen zu
       regieren, „die dem Land zehn Jahre Austerität brachten“?
       
       Der Zulauf aus anderen Parteien macht die Basis nicht nur glücklich. Der
       Konservative Phillip Lee hat in der Vergangenheit gegen die medizinische
       Versorgung von HIV-positiven Asylsuchenden gestimmt, auch gegen die
       Homoehe. Jetzt sitzt er für die Liberaldemokraten im Parlament. Die
       Vorsitzende des LGBT+-Verbandes in der Partei, Jennie Rigg, und andere
       traten deswegen empört aus. „Wenn die Partei derartigen Auffassungen Raum
       bietet, ist sie nicht mehr mein Zuhause“, sagte Rigg.
       
       Andere Neulinge in der Fraktion werden begrüßt: Chuka Ummuna und Sam
       Gyimah, beide haben westafrikanischen Familienhintergrund, und die jüdische
       Abgeordnete Luciana Berger, die Labour wegen Antisemitismus verließ. Für
       Berger repräsentieren die Liberaldemokraten heute jene Werte, deretwegen
       sie einst Labour beitrat: antirassistisch, international, offen.
       
       Rod Lynch, karibischer Abstammung und Vorsitzender der
       Gleichberechtigungsgruppe der Lib Dems, erzählt, wie er seit 2002 gegen die
       Vorherrschaft der weißen Mittelklasse in der Partei ankämpft – aber „in den
       letzten 20 Monaten habe ich einen Wandel erkennen können“.
       
       Eine der Neuen ist die Wirtschaftsdozentin Siobhan Benita, Tochter einer
       indischen Einwanderin und, wie sie sagt, eines Einwanderers aus Cornwall.
       Sie will als liberaldemokratische Londoner Bürgermeisterkandidatin nächstes
       Jahr Labour-Bürgermeister Sadiq Khan ablösen und verweist auf die Tatsache,
       dass bei den Europawahlen die Mehrheit der Londoner für die
       Liberaldemokraten stimmte. Sie spricht von konkreten Präventivmaßnahmen
       beispielsweise gegen Messerverbrechen. Sadiq Khan und seine Partei hätten
       versagt, erklärt sie.
       
       ## Es gibt mehr als nur Brexit
       
       Die Lib Dems wissen, dass sich ihre Politik nicht auf Opposition zum Brexit
       beschränken dürfen. Die aus Deutschland stammende Abgeordnete Wera Hobhouse
       hat einen der detailliertesten Pläne aller Parteien zur Klimaneutralität
       vorgestellt, „verantwortlich und nach wissenschaftlicher Erkenntnis
       durchführbar“, sagte sie. Er zieht das aktuelle britische Regierungsziel
       der Klimaneutralität von 2050 auf 2040 vor – die Grünen fordern das Jahr
       2030, die Protestbewegung „Extinction Rebellion“ sogar 2025.
       
       Den Wettlauf um Jahreszahlen vergleicht Keith Melton, Vizepräsident der
       „Green Lib Dems“, mit einem „Wettbewerb, wer am weitesten pissen kann“.
       
       Am Ende des Parteitags findet die neue Parteiführerin Jo Swinson die
       richtigen Worte für die Stimmung. Boris Johnson nennt sie jemanden, „dessen
       Planung so aussieht, als wolle er sein eigenes Haus niederbrennen: Trotz
       Versicherung wird er alles verlieren.“ Jeremy Corbyn sei ein Brexiteer.
       Großbritannien brauche die Lib Dems: „Wir müssen unsere Chance jetzt
       ergreifen.“
       
       18 Sep 2019
       
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