# taz.de -- Putins Motive: Krieg gegen die Brüder
       
       > Das Kriegsziel des Autokraten Putin ist vorerst die Ukraine. Dahinter
       > verbirgt sich die Vision, Russland solle zur Größe der Sowjetunion
       > zurückkehren.
       
 (IMG) Bild: 24. Februar 2022: Menschen in Armjansk auf der Krim winken einem russischen Armeefahrzeug zu
       
       Als Russlands Präsident Wladimir Putin am Montagabend bekannt gab, er hätte
       die Selbstständigkeit der ukrainischen Volksrepubliken Luhansk und Donezk
       verfügt, war die Welt als Zeuge schon zugegen. Auch fast eine Stunde
       Vorlesung der russischen Version der ukrainischen Geschichte ließen viele
       über sich ergehen. Es war die Lesart eines Interpreten, der aussparte, wo
       es für ihn schmerzhaft hätte werden können.
       
       Der Redner litt, er war nervös und erregt. Immer häufiger holte er tief
       Luft, bevor er weitersprach. Der Mitschnitt der Aufnahme verdeckt die
       Anstrengung nicht. Wladimir Putin hinterließ den Eindruck höchster
       Erregung, er war außer sich. Ein Zustand, den man bei Entscheidungen über
       Leben und Tod vermeiden sollte.
       
       Seit mehr als zwei Jahren sitzt der Kremlchef vor den Toren Moskaus in
       einem Bunker. Wer ihn besuchen will, muss sich desinfizieren und testen
       lassen. Die britisch-amerikanische Russlandkennerin Fiona Hill deutete
       schon vor längerer Zeit an, dass es nicht einfach sei, das Handeln des
       Kremlchefs rationalen Momenten zuzuordnen.
       
       „Demilitarisierung und Entnazifizierung“ benannte Putin als Leitmotive für
       den Ukrainekrieg in seiner Ansprache am Mittwoch. Seit der Annexion der
       Krim und der Errichtung der abtrünnigen Republiken im Osten der Ukraine
       geistert diese Behauptung durch die russische Propaganda: In Kiew herrsche
       eine „Junta“, von der Russland den Nachbarn befreien möchte. In der Ukraine
       sind Faschisten und Rechtsradikale aber im Vergleich zu Deutschland und
       Russland im Parlament kaum vertreten.
       
       ## Mythos der engen Verbundenheit
       
       Wolodimir Selenski, der Präsident der Ukraine, soll Anführer von Nazis und
       Faschisten sein? Selenski hat jüdischen Hintergrund. Bislang galt Wladimir
       Putin nicht als Antisemit.
       
       Das Putin’sche Kriegsziel gilt zunächst der Ukraine. Mit der Ukraine sei
       Russland ein Imperium, ohne Kiew nur ein großes Land, meinte der
       US-amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski einst, der
       polnische Wurzeln hatte. Diese Sentenz gilt auch für den Kremlchef, der
       trotz der seit 30 Jahren währenden Unabhängigkeit der Ukraine weiterhin von
       einem russisch-ukrainischen Volk spricht.
       
       „Demilitarisierung“ ist überdies Moskaus Ziel in der Ukraine. Dieses
       Vorhaben mag aufgehen, wenn es der russischen Armee gelingen sollte, das
       gesamte Territorium einzunehmen. Aber war die Militarisierung dort
       tatsächlich so weit fortgeschritten, dass sich Nachbar Russland bedroht
       fühlen musste?
       
       Mit der Ukraine – „mit Kiew als Mutter der russischen Städte“ – ist für
       Putin die Idee einer engen Verknüpfung beider Völker verbunden. Genaueren
       historischen Forschungen hält dieser Verlauf der russischen Geschichte
       jedoch nicht mehr stand. Nur die patriotische Geschichtsdarstellung des
       sowjetischen Geheimdienstes (KGB) und auch die Indoktrination an russischen
       Schulen heute halten daran fest. Dennoch behauptet Putin unbeirrt in seinen
       Reden, die Ukraine werde zu einem „feindlich gesinnten Anti-Russland“.
       
       Putin geht es um mehr, wie das Papier des Kreml an die USA im letzten
       Dezember deutlich machte. Die Ukraine ist der eine Herrschaftsbereich, der
       unter die Fittiche Moskaus zurückkehren soll. Darüber hinaus soll die Nato
       auf Positionen vor 1997 zurückkehren sowie Truppen und Rüstung abziehen.
       
       Putin wirft dem Westen vor, Moskau nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion
       1991 hinters Licht geführt zu haben. Die Klage, der Westen hätte Russland
       betrogen, ist zu einer lauten Anschuldigung angeschwollen. Im
       Zwei-plus-vier-Vertrag vom Dezember 1990 heißt es lediglich: „Ausländische
       Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger werden in diesen Teil
       Deutschlands (nach der Wiedervereinigung mit der DDR; die Red.) weder
       stationiert noch dorthin verlegt.“
       
       Die vermeintliche Bedrohung russischer Sicherheitsinteressen durch
       „Vorschieben von Nato-Stoßkräften und Infrastruktur an Russlands Grenzen“
       lenkt vom eigentlichen Motiv ab. Putin fürchtet um die Stabilität seines
       Systems. Farbrevolutionen wie in Georgien (2003) und der Ukraine (2014)
       könnten die Herrschaft des Kreml unterspülen.
       
       ## Angst vor Demokratiebewegungen
       
       Auch wenn es zurzeit in Russland dafür keine Anzeichen gibt. Moskaus
       politische Führung misstraut dem Volk grundsätzlich. Es hat die Opposition
       gezielt unterdrückt, verhaftet und seit 2021 außer Landes getrieben.
       Überdies stellt der Kreml Forderungen auf, die einen Rückzug der Nato aus
       Osteuropa verlangen. Beim Abschluss der Russland-Nato-Akte (1998) hatte
       Moskau der Aufnahme osteuropäischer Anwärter noch zugestimmt.
       
       Kurzum, Moskau möchte das Rad der Geschichte zurückdrehen und den Teil
       Osteuropas als Einflussgebiet zurückbekommen, der bis zum Zusammenbruch der
       UdSSR dem Warschauer Vertrag angehörte. Gleichzeitig sollen sich die USA
       aus Europa zurückziehen. Dies würde Washington sicherlich gerne machen, um
       für China freie Hand zu bekommen.
       
       Russland hat bislang eins erreicht: Die Nato wurde in der Notsituation
       wiederbelebt und enger zusammengeschweißt, sodass selbst Putin-Freunde wie
       Ungarn plötzlich auf Linie sind. Auch die Aufrüstung der EU-Randgebiete im
       Osten dürfte nach dem Völkerrechtsbruch Russlands keine größeren
       Schwierigkeiten mehr bedeuten. Noch bleibt Putins Ziel, als „Sammler der
       russischen Erde“ in die Geschichte einzugehen, ein düsterer Traum.
       
       24 Feb 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus-Helge Donath
       
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