# taz.de -- Räumung der Mainzer Straße 1990: „Ein vernachlässigtes Kapitel“
       
       > Jakob Sass, Mitherausgeber des Buches „Traum und Trauma“ zur Besetzung
       > und Räumung der Mainzer Straße im Jahr 1990, im Interview.
       
 (IMG) Bild: Eine nächtliche Aufnahme vom 14. November 1990 (aus dem Band „Traum und Trauma“)
       
       taz: Herr Saß, Sie gehören zu den MitherausgeberInnen von „Traum und
       Trauma. Die Besetzung und Räumung der Mainzer Straße 1990 in Ost-Berlin“.
       Was interessiert Sie persönlich nach 30 Jahren an dem Thema? 
       
       Jakob Saß: Ich wohne im Friedrichshainer Nordkiez, und früher führte mein
       Schulweg jahrelang durch die Rigaer Straße. Der bunte, alternative Kiez war
       und ist für mich Alltag.
       
       Warum befasste sich bereits 2015 ein studentisches Projekt des
       Masterstudiums Public History an der FU Berlin mit der Mainzer Straße in
       Friedrichshain? 
       
       2015 standen 25 Jahre deutsche Einheit an. Mit dem Jubiläum der Besetzung
       und Räumung der Mainzer Straße entschieden wir uns allerdings für ein
       vernachlässigtes Kapitel dieser Umbruchszeit. Das Ergebnis war eine
       Straßenbiografie, die weit über das Jahr 1990 hinausgeht und über 100 Jahre
       zurückschaut (siehe www.mainzerstrasse.berlin – Anm. d. A.). Aus dem
       Projekt entstand schließlich die Idee zum aktuellen Buch, an dem viele
       ehemalige Studierenden und die Projektleiterin Christine Bartlitz erneut
       mitwirkten.
       
       Wie sind Sie an die ZeitzeugInnen herangekommen, die sich in dem Buch mit
       Text, Interview und Fotos zu Wort melden? 
       
       Wir wollten von Anfang an so viele Perspektiven wie möglich. Mit vielen
       Zeitzeug*innen hatten wir bereits während des Uniprojekts Gespräche
       geführt, etwa mit Renate Künast, dem ehemaligen Mainzer-Besetzer Freke
       Over, dem damaligen Regierenden Bürgermeister Walter Momper oder dem
       Polizeipräsidenten Georg Schertz. Auf Gerald Dettling, einen der
       „Urbesetzer“ der Liebig34, stießen wir Anfang 2020 durch den taz-Artikel
       über sein autobiografisches Buch, in dem er seinen „kurzen Sommer der
       Anarchie“ und die Eskalation um die Mainzer beschreibt. Thomas Krüger, 1990
       Stadtrat für Inneres im ersten frei gewählten Magistrat von Ostberlin,
       kontaktierten wir gezielt, um die ostdeutsche Perspektive im Buch zu
       stärken. Viele Kontakte ergaben sich aber auch zufällig. Während wir noch
       an der Idee des Buchs feilten, eröffnete der Fotograf Holger Herschel Ende
       November 2019 eine Ausstellung mit beeindruckenden Langzeitaufnahmen. Die
       hatte er 1990 wenige Stunden vor der Räumung in der Mainzer gemacht. Eines
       dieser Fotos ziert unser Cover.
       
       Auffällig ist, dass wenige ehemalige BesetzerInnen im Buch zu Wort kommen.
       War es so schwer, jemanden zu finden? 
       
       Ja. Trotz vieler Anfragen, Aufrufe und Besuche in Hausprojekten und
       Szenekneipen wie das Supamolly gab es leider nur wenige Rückmeldungen für
       Interviews. Viele Zeitzeug*innen wollten oder konnten über die
       traumatisierenden Ereignisse der Räumung nicht sprechen und verwiesen meist
       auf Freke Over, der damit auch schon früher kein Problem hatte. Eine
       ehemalige Besetzerin hat sogar die Veröffentlichungserlaubnis für ein
       bereits fertiges anonymisiertes Interview aus Angst zurückgezogen, nicht
       etwa vor der Polizei, sondern davor, ehemalige Mitbewohner*innen zu
       verärgern. Allerdings ist in unserem Buch die Perspektive der
       Besetzer*innen mit drei Erinnerungsberichten verhältnismäßig stark
       vertreten.
       
       Sie stellen im Vorwort die Frage, warum das Trauma der Räumung nicht
       aufgearbeitet wurde. Haben Sie eine Antwort gefunden? 
       
       Das liegt vor allem daran, dass es nach der Räumung der Mainzer praktisch
       keine gesellschaftliche, politische oder juristische Aufarbeitung der
       Ereignisse gegeben hat. So überlebten auf linker wie auf staatlicher Seite
       bis heute stereotype Feindbilder wie „brutale Bullen“ versus
       „tötungsbereite Chaoten“ und Mythen um die Ursachen und den Ablauf der
       Eskalation. Die Räumung zerstörte zudem nicht nur einen Traum von einer
       Kollektivgemeinschaft außerhalb der kapitalistischen Leistungsgesellschaft,
       sondern auch ganze Existenzen.
       
       Sehen Sie bei der am Freitag geräumten Liebigstraße 34 Parallelen zur
       Mainzer Straße? 
       
       Gemeinsamkeiten zwischen der Mainzer und der Liebig 34 sehe ich in der
       großen Solidarität von Sympathisant*innen aus der Szene, aus der linken und
       grünen Politik, aber auch aus der ganzen Welt. Allerdings war vor einigen
       Tagen wie auch vor 30 Jahren zu erkennen: Je radikaler das Umfeld auftritt,
       desto mehr Menschen distanzieren sich von den Wohnprojekten. Die Mainzer
       hatte zwar im Sommer 1990 zum Beispiel mit ihrem Kampf gegen die Neonazis
       oder dem Bau von Kinderspielplätzen im Kiez die Sympathie von Nachbar*innen
       gewonnen, diese jedoch im „heißen Herbst“ zum Teil schnell durch
       Anpöbelungen als „Spießer“ und radikale Aktionen verspielt. Historisch
       gesehen bleiben eben friedliche Bewegungen und Proteste nachhaltig
       erfolgreicher.
       
       14 Oct 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Nowak
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Liebig34
 (DIR) Hausbesetzung
 (DIR) Volksbegehren Deutsche Wohnen enteignen
 (DIR) Friedrichshain
 (DIR) Stadtland
 (DIR) Queerfeminismus
 (DIR) Polizei Berlin
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Hausbesetzer
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Bethanien-Besetzer über Vergangenes: „Sich erst mal verwirklichen“
       
       Vor 50 Jahren besetzten Jugendliche das ehemalige Schwesternwohnheim des
       Bethanienkrankenhauses in Berlin-Kreuzberg. Sie wollten selbstbestimmt
       leben.
       
 (DIR) Hausprojekt-Räumung in Berlin: „Idee der Liebig34 lebt weiter“
       
       Vor gut zwei Wochen wurde das Flint*-Hausprojekt von der Polizei geräumt.
       Was ist aus den Bewohner*innen geworden? Ein Treffen in Friedrichshain
       
 (DIR) Bilder von der Liebigstraße 34: An der Grenze zur Pornografie
       
       Die Polizei präsentiert der Presse die geräumte Liebig 34 als „Drecksloch“.
       Ein ekelerregender Verstoß gegen das Recht auf Privatsphäre.
       
 (DIR) 30 Jahre Hausbesetzungen in Ostberlin: Der Sommer der Anarchie
       
       Vor 30 Jahren wurden erste Häuser in Ostberlin besetzt – auch die
       Linienstraße 206, eine Art Denkmal für die linke Szene. Ex-BesetzerInnen
       erzählen.
       
 (DIR) Buch über Hausbesetzer: Druiden in der Germanenetage
       
       Krude Esoteriker? Auch die gab es 1990 unter den Hausbesetzern in
       Ostberlin. Einer, der das alles miterlebte, hat nun ein Buch verfasst.