# taz.de -- Regionalparlamentswahl in Nordirland: Insel vor historischer Wende
       
       > Die Pro-Wiedervereinigungs-Partei Sinn Féin könnte stärkste Kraft werden.
       > Die nordirische Wahl gibt auch die Stimmung der Einwohner zum Brexit
       > wieder.
       
 (IMG) Bild: Nach den Wahlen könnte Nordirlands Regionalparlament insgesamt so aussehen
       
       DUBLIN taz | Nordirland wählt am Donnerstag ein neues Regionalparlament.
       Aber es wird nicht tagen, zumindest vorerst nicht. Die Democratic Unionist
       Party (DUP), die bisher stärkste Partei, boykottiert das Parlament. Der
       Grund dafür ist das [1][Nordirland-Protokoll im Brexit-Vertrag].
       
       Das Protokoll regelt, dass Nordirland faktisch Teil des EU-Binnenmarkts
       bleibt und sich an die EU-Zollregeln halten muss. Dadurch soll eine
       physische Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland vermieden
       werden. Stattdessen ist aber eine Zollgrenze zwischen Nordirland und
       Großbritannien entstanden, damit britische Waren nicht unkontrolliert nach
       Nordirland und von dort in den EU-Binnenmarkt gelangen können.
       
       Für die probritischen Unionisten, deren größte politische Partei die DUP
       ist, ist es inakzeptabel, dass Nordirland damit anders als der Rest des
       Vereinigten Königreichs behandelt wird. Sie befürchten, das sei der erste
       Schritt zu einem vereinigten Irland. Die Furcht ist nicht unbegründet. Laut
       einer Umfrage des Institute of Irish Studies an der Universität Liverpool
       liegt Sinn Féin, ehemals politischer Flügel der inzwischen aufgelösten
       Irisch-Republikanischen Armee (IRA), die jahrzehntelang mit der Waffe gegen
       die britische Herrschaft in Nordirland kämpfte, mit 23,2 Prozent deutlich
       vor der DUP, die nur auf 19,4 Prozent kommt.
       
       Darüber hinaus hat Sinn Féin in der Republik Irland bei Meinungsumfragen
       als wichtigste Oppositionspartei deutlichen Vorsprung vor den beiden
       etablierten Parteien Fine Gael und Fianna Fáil, die in Dublin seit der
       Unabhängigkeit vor hundert Jahren abwechselnd regiert haben und jetzt
       erstmals gemeinsam regieren, in einer Koalition mit den Grünen. Sollte Sinn
       Féin eines Tages sowohl in Dublin als auch in Belfast die Regierung
       stellen, wäre der Weg zu einem Vereinigungsprozess auf der Insel wohl kaum
       noch aufzuhalten.
       
       ## Im Bürgerkrieg Ende der sechziger Jahre starben rund 3.500 Menschen
       
       Im nordirischen Wahlkampf kocht Sinn Féin das Thema Wiedervereinigung
       jedoch klein, auch wenn Parteichefin [2][Mary Lou McDonald] sagt, es sei
       „die beste Option für die Zukunft unserer Insel“. Sinn Féins
       Wahlkampfthemen sind Lebenshaltungskosten, bezahlbarer Wohnraum sowie die
       extrem langen Wartezeiten auf Termine bei Fachärzten in Krankenhäusern.
       Diese Punkte stehen bei den Wählerinnen und Wählern ganz oben auf der Liste
       – im Gegensatz zur Wiedervereinigung. Noch viel weiter unten rangiert das
       Nordirland-Protokoll.
       
       Für DUP-Chef Jeffrey Donaldson ist das misslich, denn er hat die Wahlen zum
       Volksentscheid über das Protokoll erklärt. Wahlkampfauftakt war für ihn am
       3. Februar, als er seinen Ersten Minister Paul Givan anwies, vom Amt
       zurückzutreten. Donaldson hatte seit Monaten mit diesem Schritt gedroht.
       Durch Givans Rücktritt verlor auch seine gleichberechtigte Stellvertreterin
       Michelle O’Neill von Sinn Féin ihren Posten, denn so ist es im
       Nordirland-Friedensabkommen vom Karfreitag 1998 geregelt.
       
       Damals einigte man sich auf ein kompliziertes Konstrukt, das die
       Vorherrschaft einer Partei verhindern soll. Die protestantischen Unionisten
       hatten jahrzehntelang allein regiert und den katholischen Nationalisten
       elementare Bürgerrechte vorenthalten, was schließlich Ende der sechziger
       Jahre in einem bewaffneten Konflikt eskalierte, der rund 3.500 Menschen das
       Leben kostete. Der Preis für das Ende des Krieges der IRA war das Konstrukt
       einer gemeinsamen Regierung der protestantischen und katholischen Kräfte.
       
       Das Regionalparlament besteht aus 90 Mitgliedern, die nach dem
       Verhältniswahlrecht gewählt werden. Die Regierung ist eine Zwangskoalition,
       der alle Parteien angehören, die mindestens neun Sitze haben. Neben dem
       Ersten Minister und der gleichberechtigten Stellvertreterin werden acht
       Minister nach einem Prinzip bestimmt, wonach sich die Parteien reihum auf
       Basis ihres Stimmanteils die Ministerien aussuchen können. Lediglich der
       Justizminister wird von allen Abgeordneten gewählt.
       
       ## In protestantischen Vierteln tauchen Wandgemälde von Kämpfern auf
       
       Jeder dieser Abgeordneten muss sich als „Unionist“, „Nationalist“ oder
       „Anderer“ identifizieren. Manche Entscheidungen, etwa der Haushaltsplan,
       benötigen nämlich eine Mehrheit auf beiden Seiten.
       
       Die Alliance Party fällt unter „Andere“. Sie kann sich vor jeder Abstimmung
       als unionistisch oder nationalistisch erklären – je nachdem, wo eine
       Mehrheit benötigt wird. Lange Zeit spielte die Partei nur eine Nebenrolle,
       doch Umfragen deuten darauf hin, dass sie am Donnerstag mit mehr als 15
       Prozent Stimmanteil zur drittstärksten Kraft werden könnte. Das liegt vor
       allem an jungen Erstwählern, die sich nicht mehr um die traditionellen
       katholisch-protestantischen Trennlinien scheren.
       
       Für Donaldson und die DUP wäre es eine Katastrophe, von Sinn Féin
       überflügelt zu werden. Dann wäre Michelle O’Neill Erste Ministerin, und das
       hätte weit mehr als nur symbolische Bedeutung. Schließlich haben Donaldson
       und andere Unionisten-Führer immer wieder behauptet, dass die Union mit
       Großbritannien sicher sei, solange Nordirland unionistisch regiert werde.
       
       Deshalb spielen Donaldson und andere Hardliner die letzte Karte, die ihnen
       bleibt: Sie malen das Gespenst der Gewalt an die Wand – im Wortsinne. In
       protestantisch-unionistischen Vierteln Belfasts und anderer Städte sind in
       letzter Zeit wieder Wandgemälde von vermummten bewaffneten Kämpfern
       aufgetaucht.
       
       ## Für Krieg fehlt die Unterstützung der Bevölkerung
       
       Eine Rückkehr zum Krieg dürfte es jedoch nicht geben, auch wenn es
       vereinzelte Bombendrohungen und kleine Scharmützel gab. Dafür fehlt die
       Unterstützung der Bevölkerung. Und auch Donaldsons wirtschaftliches
       Untergangsszenario zieht nicht, „Das Nordirland-Protokoll kostet die
       nordirische Wirtschaft 100.000 Pfund jede Stunde“, behauptete er. „Das
       können wir nicht ignorieren. Jeden Tag kommen Unternehmer zu mir und
       beklagen, dass das Protokoll ihren Unternehmen schadet. Deshalb musste
       Givan zurücktreten.“
       
       Tatsächlich haben die 1.200 Mitglieder der nordirischen Kammer für
       Wirtschaft und Industrie Givans Rücktritt scharf kritisiert. Er habe
       „negative Folgen für die Menschen und für die Unternehmen“, hieß es in der
       Presseerklärung. Für Nordirlands Wirtschaft ist das Protokoll ein Segen,
       das wissen auch die unionistischen Unternehmer. Schließlich haben sie
       dadurch unbeschränkten Zugang sowohl zum britischen Markt als auch zu dem
       der EU.
       
       Die Zahlen belegen das: Exporte von Nordirland in die Republik Irland –
       also in die EU – stiegen im Vorjahr um fast zwei Drittel, Importe legten um
       46 Prozent zu. Nordirlands Industrieverband [3][Manufacturing NI] setzt
       sich deshalb dafür ein, das Nordirland-Protokoll beizubehalten – selbst
       wenn Nordirland dann auf unabsehbare Zeit ohne Regionalparlament auskommen
       muss.
       
       4 May 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://ec.europa.eu/info/strategy/relations-non-eu-countries/relations-united-kingdom/eu-uk-withdrawal-agreement/protocol-ireland-and-northern-ireland_de
 (DIR) [2] https://twitter.com/MaryLouMcDonald
 (DIR) [3] https://www.manufacturingni.org
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralf Sotscheck
       
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