# taz.de -- Saudi-arabisches Vormundschaftsystem : Lebenslange Knechtschaft für Frauen
       
       > Adal verdient ihr eigenes Geld, hat ein eigenes Auto und ein
       > Dienstmädchen. Doch an ihr Erbe kommt sie nicht ran. Das verhindert ihr
       > Stiefbruder - er ist ihr Vormund.
       
 (IMG) Bild: Frauen beim Shopping in Riad.
       
       DSCHIDDA taz | Sie ist eine Kämpferin, sagt sie über sich selbst.
       Vielleicht ist das der Schlüssel zu ihrer Geschichte. Eine Kämpferin: Sie
       lässt sich nichts gefallen, soll das heißen. Von niemandem. Auch nicht von
       Männern. Nennen wir sie Adal, denn ihren richtigen Namen will sie nicht
       nennen. Nicht mal ihren Geburtsort, nur dass sie aus dem Süden
       Saudi-Arabiens kommt und Mitte vierzig ist.
       
       Dass Frauen außerhalb des Hauses ihren Namen nicht nennen, ist nicht
       ungewöhnlich in Saudi-Arabien. Viele nennen sich "Um X", "Mutter von X".
       Und einen Familienstreit an die Öffentlichkeit zu bringen, gilt hier als
       schlimme Schande.
       
       Das ist jedoch genau das, was Adal gerade tut. Dass sie also überhaupt mit
       einem Journalisten spricht, ist nur so zu erklären, dass sie "nicht mehr
       kann", wie sie sagt. Und so gibt ihre Geschichte einen seltenen Einblick in
       das Leben einer normalen saudischen Frau, weit weg vom im Umgang mit
       medienversierten Aktivistinnen. Und ihre Geschichte zeigt auch, dass sich
       immer mehr saudische Frauen gegen die Vormundschaft eines Mannes wehren. 
       
       ## Scheidungs steigt stetig
       
       "Weil wir eine offenere Gesellschaft werden, sehen wir solche Fälle
       zunehmen", sagt Hussein al-Scharif, der Chef der Gesellschaft für
       Menschenrechte (NSHR) in Dschidda. Und die Zahlen bestätigen das. Laut der
       Tageszeitung Arab News steigt die Scheidungsrate in Saudi-Arabien stetig
       an.
       
       Fast 62 Prozent der Ehen werden geschieden, und nach einer Schätzung wird
       es im Königreich 2015 vier Millionen unverheiratete Frauen über 35 Jahren
       geben.
       
       Sollte noch irgendein Zweifel bestanden haben, wo wir uns hier befinden,
       wären sie schon am Eingang unseres Treffpunktes verschwunden. Das NSHR-Haus
       in Dschidda ist eine klassizistische Villa direkt an der Stadtautobahn. Sie
       hat zwei separate Eingänge, mit Schildern für "Frauen" und "Männer"
       darüber. Sie führen in zwei separate Haushälften, in denen die beiden
       Geschlechter getrennt arbeiten.
       
       Zusammen kommen sie nur in einem breiten Konferenzraum, der sich über beide
       Haushälften erstreckt. Selbst das ist jedoch ein Tribut an die Moderne. In
       vielen Institutionen in Saudi-Arabien, in denen Frauen arbeiten,
       kommunizieren sie mit Männern per Videokonferenz oder Telefon.
       
       In diesem die Trennwände überspannenden Konferenzraum sitzt Adal. Sie trägt
       die Abaya, jene pechschwarze, weite Robe, die alle Frauen hier tragen;
       außerdem den schwarzen Gesichtsschleier bis über die Nase gezogen und über
       dem Kopf ein trapezförmiges Tuch in derselben Farbe, das sie an die
       Silhouette Darth Vaders gemahnen lässt, des Erzschurken aus der
       Star-Wars-Trilogie. Aus dem engen Schlitz, der frei bleibt, lugt sie mit
       dunklen, lebendigen Augen.
       
       Wenn sie sich zurücklehnt, teilt sie den Raum vor sich mit flinken
       Bewegungen ihrer Hände, wie das Frauen im Mittleren Osten so tun. Dann
       sieht man, dass sie auf den Nägeln der linken Hand Nagelack trägt - die
       rechte Hand ist die gute Hand im Islam. Dort trägt sie auch einen großen
       Silberring und drückt nervös auf einem Papiertaschentuch-Ball herum.
       
       Wenn sie noch etwas nervöser ist, hat sie auch noch eine Gebetskette vor
       sich liegen. Die nimmt sie dann in die rechte Hand und lässt sie, jede
       Kugel einzeln, schnell durch die Finger gleiten.
       
       ## Mit dreizehn verheiratet
       
       Das ist Adals Geschichte: Von ihrem Vater wurde sie mit 13 Jahren in die
       Ehe mit einem Mann aus dem Nachbardorf gegeben.
       
       Hat sie ihn vorher einmal gesehen? "Nein, das ist bei uns nicht Tradition",
       sagt sie und stellt gleich klar, der Grund für die frühe Hochzeit sei
       allein die Gier ihres Vaters gewesen. "Er wollte den Brautpreis für mich."
       
       Später wird sie sagen, bei fast allen Familienstreitereien gehe es im
       Grunde ums Geld, und die NSHR-Mitarbeiterin, die im Raum dabei sitzt, wird
       nicken.
       
       Von Anfang an jedoch, sagt Adal, habe es Probleme in ihrer Ehe gegeben,
       weil ihr Mann ihr Vorschriften machen wollte. Aber da sie, wie gesagt, eine
       Kämpferin ist, beendete sie die Schule und studierte sogar. Heute ist sie
       Lehrerin in einer staatlichen Mädchenschule.
       
       Mit ihrem Mann zusammen zog sie nach Dschidda, ans Rote Meer. Erst
       arbeitete er dort in einer Bank, heute ist er Geschäftsmann. Zusammen
       hatten sie einen Sohn, dann eine Tochter. Als ihre Tochter drei Jahre alt
       war, ließ Adal sich jedoch scheiden. Das war vor 20 Jahren.
       
       ## Das Haus wird überwacht
       
       Die Probleme hörten damit jedoch nicht auf, denn ihr geschiedener Mann ist
       der Vormund ihrer Tochter und muss deshalb allen wichtigen Entscheidungen
       zustimmen, die sie betreffen.
       
       Eigentlich sollte die Tochter heute mit ihr zu dem Interview kommen, aber
       sie hatte Angst und blieb deshalb zu Hause. Adal sagt, ihr geschiedener
       Mann lasse das Haus überwachen und wäre zur Polizei gegangen, hätte er
       gesehen, dass sie mit ihrer Tochter zur NSHR geht. "Ich kann nichts
       machen", sagt sie und lässt die Gebetskette rotieren. "Wenn ich zur Polizei
       gehe, sagen die mir: "Wir können Ihnen nicht helfen. Kommen Sie mit Ihrem
       Vormund wieder."
       
       Kurz nach der Scheidung hat ihr Exmann die einjährige Tochter zu sich
       genommen. Adal musste vor Gericht gehen, um das Sorgerecht für sie zu
       erstreiten. Nun will sie, dass ihre Tochter im Ausland studiert. Sie ist
       gerade im zweiten Semester ihres Medizinstudiums. Doch ihr geschiedener
       Mann will sie nicht gehen lassen.
       
       ## Der Vormund entscheidet
       
       Adal ist sicher, dass er sie verheiraten möchte. Er ist der Vormund, er
       kann das entscheiden. In Saudi-Arabien geht gerade ein Verfahren durch die
       Instanzen, in dem eine Ärztin klagt, den Mann ihrer Wahl, nicht der ihres
       Vaters, heiraten zu dürfen. Aber nach derzeitiger Rechtslage entscheidet
       noch der Vormund.
       
       "Mein Exmann hat eine zweite Frau geheiratet. Deren Tochter hat er mit 15
       Jahren verheiratet", sagt Adal, und wieder klackert die Gebetskette. Adal
       selbst würde gerne nach Syrien reisen, um sich die Zähne richten zu lassen.
       Dort seien die Ärzte billiger, sagt sie. Aber sie bekommt die Zustimmung
       ihres Vormundes dafür nicht.
       
       Und es kommt noch schlimmer: Ihr Vormund ist nämlich ihr älterer
       Stiefbruder, mit dem sie sich seit Jahren vor Gericht um die Erbschaft
       ihres Vaters streitet. Die zwei Häuser stehen in ihrem Heimatdorf im Süden
       des Landes.
       
       ## Angst vorm Stiefbruder
       
       "Er nimmt meine Anrufe nicht an. Er hilft mir gar nicht", sagt sie über
       ihren Stiefbruder. "Wenn wir uns treffen, beschimpft er mich. Ich stelle
       immer sicher, dass ich nicht allein mit ihm im Raum bin, damit mir nichts
       zustoßen kann."
       
       Ein Gericht hat Adal ihren Anteil an den Häusern zugesprochen, aber bisher
       hat sie noch nicht darauf zugreifen können. Den Richter hat sie gebeten,
       die Vormundschaft ihres Bruders auf ihren Sohn zu übertragen. Der studiert
       allerdings gerade in Indien.
       
       Der Richter hat das abgelehnt. Er wolle erst den Erbschaftsstreit
       abarbeiten, habe er gesagt, sagt Adal, dann werde er über die Vormundschaft
       entscheiden.
       
       ## Eigenes Geld
       
       Die Wurzel des ganzen Übels für Frauen in Saudi-Arabien, sagt Adal, liegt
       darin, dass Männer in dem Land nicht damit umgehen könnten, dass die Frauen
       ihr eigenes Geld verdienen. Sie sagt, seit dem Tod ihres Vaters zahle sie
       die Zinsen für den Kredit des Hauses, in dem ihr Stiefbruder nun wohnt.
       
       Und später wird sie mit einem breiten Lachen erzählen, das man selbst durch
       den Schleier sehen kann, dass sie ein eigenes Auto hat und einen Fahrer und
       ein Dienstmädchen aus Indonesien - die saudischen Statussymbole, ohne die
       hier keine Familie auskommt.
       
       ## Gefangen im System
       
       Deshalb ärgert sie sich so, dass sie für so viele Sachen die Zustimmung
       eines Mannes braucht. "Das Vormundschaftssystem macht mir das Leben zum
       Spießrutenlauf", sagt sie. "Für jemanden wie mich, die geschieden ist, die
       mit ihrem Stiefbruder Streit hat und deren Sohn nicht im Land ist: Was soll
       ich machen?"
       
       Klack, klack, klack.
       
       Das System will sie gar nicht ändern. "Ich will nur eine Lösung für mein
       Problem. Das ist alles." Und wieder heiraten, was viele Frauen in
       Saudi-Arabien machen, um einen neuen Mann in ihr Leben und damit einen
       neuen Vormund zu bekommen, steht für Adal nicht zur Diskussion.
       
       "Nach meiner ersten Ehe ist mir dieser Gedanke nicht ein einziges Mal
       gekommen", sagt sie, ohne das Ende der Frage abzuwarten. "Ich hatte viel zu
       viel Angst, dass nur jemand anderes kommt, der über mein Leben bestimmt."
       Die Gebetskette liegt dabei unberührt vor ihr auf dem Tisch.
       
       30 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Böhm
       
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