# taz.de -- Triage in Deutschland: Im Katastrophenfall
       
       > Kliniken bereiten sich auf steigende Patientenzahlen vor. Mitarbeitende
       > werden auch für den Katastrophenfall, die Triage, geschult.
       
 (IMG) Bild: Patienten können im Notfall auch schnell in andere Krankenhäuser verlegt werden
       
       Spätestens im Oktober nistete sich das Virus im Landkreis
       Oberspreewald-Lausitz ein. Das Krankenhaus Niederlausitz ist hier
       Alleinversorger für 110.000 Menschen; ab Ende Oktober wurden viele
       Patient:innen eingeliefert. Und inzwischen sterben in der Stadt
       Senftenberg, in der das Krankenhaus vis-a-vis vom Bahnhof steht, täglich
       Menschen an Covid-19. Einmal waren es vier Menschen in einer Stunde. Die
       7-Tage-Inzidenz ist eine der höchsten in Deutschland; sie liegt bei über
       500 Infizierten pro 100.000 Einwohner:innen.
       
       „Davon kommt ja ein Teil erst noch zu uns ins Krankenhaus“, sagt
       Geschäftsführer Tobias Vaasen. Etwa zehn Tage vergehen zwischen ersten
       Symptomen und – bei einem schweren Verlauf – einer Einlieferung in die
       Klinik. „Da sind wir ziemlich genau bei Weihnachten“, konstatiert Vaasen.
       „Wir bereiten uns auf den Katastrophenfall vor.“ Es ist nicht das einzige
       Krankenhaus mit solch düsterer Prognose für die Feiertage.
       
       Der Katastrophenfall im Krankenhaus: Der tritt auch ein, wenn es etwa einen
       Massenunfall gibt – mit so vielen Schwerverletzten, dass die Kapazitäten
       nicht reichen, um alle gleichzeitig zu versorgen. Dann muss sortiert
       werden: Wer braucht die Hilfe sofort, wer kann warten, und wenn es hart auf
       hart kommt, wer hat die höhere Überlebenswahrscheinlichkeit.
       
       Triage nennt man diesen Prozess der Ersteinschätzung. In überfüllten
       Notaufnahmen gehört er bis zu einem gewissen Grad zum Alltagsgeschäft; für
       das Personal ist er Teil der Ausbildung. Zum Dilemma wird die Triage dann,
       wenn die Entscheidungen zur Folge haben, dass ein Teil der Betroffenen mit
       hoher Wahrscheinlichkeit stirbt – weil die Beatmungsgeräte nicht für alle
       reichen oder sämtliche Teams für eine Reanimation bereits im Einsatz sind.
       Eine solche Dimension kann die Triage eben bei Massenunfällen erreichen,
       vor allem aber in Kriegen. Und bei Pandemien.
       
       Am Mittwoch sorgte die Nachricht für Aufregung, ein Klinikum im sächsischen
       Zittau habe die Triage bereits mehrfach anwenden und darüber entscheiden
       müssen, wer Sauerstoffbeatmung bekommt und wer nicht. Zunächst hatte ein
       Deutschlandfunk-Reporter darüber berichtet, ein Chefarzt der Klinik habe
       sich entsprechend geäußert. Die Klinikleitung selber bestätigte dies
       nicht, sprach aber auch davon, dass die intensivmedizinische Betreuung an
       die Grenze des Leistbaren stoße.
       
       Anders als noch während der ersten Coronawelle geht es vielen
       Krankenhäusern inzwischen so. Im Frühjahr habe man insgesamt 13
       Covid-19-Patient:innen behandelt, erzählt Tobias Vaasen vom Klinikum
       Niederlausitz. Seit der zweiten Oktoberhälfte seien es bereits 274
       Patient:innen. Mitte der Woche waren alle Plätze auf der Intensiv- und
       Überwachungsstation voll. Es gibt zwar zusätzliche Beatmungskapazitäten,
       „aber ob die alle bespielt werden können, ist die andere Frage“, so Vaasen.
       Die Klinik kämpft mit hohen Personalausfällen, bis zu 50 Prozent pro
       Schicht. Binnen weniger Tage waren 90 der rund 450 Pflegekräfte ausgefallen
       – erkrankt oder in Quarantäne. „Die hohe Inzidenz geht auch an unseren
       Leuten nicht vorbei.“ Zwei der eigenen Mitarbeiter lagen schon im Klinikum
       auf der Intensivstation.
       
       Das größte Problem sei die „hoch angespannte“ Personalsituation, heißt es
       auch von den Main-Kinzig-Kliniken in Hessen. Auch hier erwartet man bis
       Weihnachten einen zusätzlichen Anstieg an Coronapatient:innen, jedoch
       keine Triage. „Wir haben OP-Säle so organisiert, dass sie kurzfristig mit
       Beatmungsplätzen ausgestattet werden können“, erklärt eine Sprecherin auf
       Anfrage. Wie in der Niederlausitz sei Personal verschoben worden, behandelt
       werden nur noch Notfälle und „absolut dringliche“ Patient:innen. Ähnlich in
       der Uniklinik Bochum, wo man bis Weihnachten mit einem weiteren Anstieg an
       Coronapatient:innen rechnet und alle planbaren Eingriffe verschoben hat.
       „Wir hoffen sehr, dass wir um eine Triage herumkommen“, sagt
       Geschäftsführer Hans-Peter Jochum. „Vorbereitet sind wir auf alles.“
       
       Auch die Kliniken Köln-Merheim und Köln-Holweide sowie die Leipziger
       Uniklinik rechnen nicht mit einer Triage, Vorbereitungen werden dennoch
       getroffen. In den Kölner Kliniken etwa werden Mitarbeiter*innen in
       Onlineseminaren geschult.
       
       ## Das Dilemma der Triage
       
       Schon während der ersten Coronawelle musste in Deutschland über die Triage
       gesprochen werden, die Bilder aus der Lombardei ließen nichts anderes zu.
       Acht medizinische Fachgesellschaften, darunter die Deutsche
       Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI),
       legten im Frühjahr präzisierte [1][Triage-Empfehlungen] vor. Darin sind
       auch Erkrankungen aufgeführt, die als Indikatoren für eine schlechte
       Behandlungsprognose dienen sollen und damit als Anhaltspunkt für die
       Entscheidung, wer bei nicht ausreichenden Kapazitäten intensivmedizinisch
       behandelt wird und wer nicht. Zu diesen Indikatoren zählen neben dem
       Schweregrad der aktuellen Erkrankung bereits bestehende Erkrankungen wie
       etwa eine eingeschränkte Lungen- und Herzfunktion, eine weit
       fortgeschrittene Krebserkrankung oder eine schwere, irreversible
       Immunschwäche.
       
       Im Juli hatten neun Menschen mit Behinderung Verfassungsbeschwerde
       eingelegt. Sie fürchten, im Falle der Anwendung der Triagevorgaben
       benachteiligt zu werden, und drängen auf eine gesetzliche Regelung. Die
       DIVI betonte daraufhin in einer Stellungnahme, dass es bei den
       Triage-Empfehlungen immer nur darum gehe, wer diese akute Erkrankung mit
       großer Wahrscheinlichkeit nicht überleben wird, eine pauschale
       Schlechterstellung aufgrund von Alter, Behinderung oder chronischen
       Erkrankungen werde verhindert. „Welcher Patient wird jetzt und hier eher
       überleben? Das ist die entscheidende Frage in der Triage“, erklärte
       DIVI-Präsident Uwe Janssens. Aber auch die DIVI spricht sich für eine
       gesetzliche Regelung aus. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) lehnt dies
       bisher ebenso wie Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) ab.
       
       Sowohl bei der DIVI als auch beim Marburger Bund, dem Bundesverband der
       deutschen Ärzte, geht man bislang davon aus, dramatische
       Triage-Entscheidungen abwenden zu können. Hans-Jörg Freese vom Marburger
       Bund sagte der taz: „Uns liegen keine Hinweise vor, dass es bereits jetzt
       Triagesituationen gibt. Angesichts der zur Verfügung stehenden
       Gesamtkapazitäten rechnen wir nicht damit, dass es in Deutschland zur
       Triage kommt.“ Wenn die intensivmedizinischen Kapazitäten einer Klinik
       erschöpft seien, würden Patient*innen in andere Krankenhäuser verlegt.
       Mitunter auch per Hubschrauber in weiter entfernte Kliniken, so Freese.
       
       ## Kliniken helfen sich gegenseitig
       
       Tatsächlich ist die Verlegung für einige Kliniken bereits das verbleibende
       Mittel, um die Lage zu entspannen. Um einen drohenden Kollaps zu
       verhindern, hat das Bundesinnenministerium zusammen mit
       Intensivmediziner:innen ein Notfallkonzept entwickelt, das
       „Kleeblatt-Konzept“. Es regelt, wie Coronapatient:innen deutschlandweit
       verteilt werden können – aus stark von der Pandemie betroffenen Regionen in
       weniger stark betroffene.
       
       Das Konzept teilt Deutschland in fünf Bereiche ein, sogenannte Kleeblätter:
       Niedersachsen, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern
       bilden zum Beispiel das Kleeblatt Nord. Berlin, Brandenburg, Sachsen,
       Sachsen-Anhalt, Thüringen das Kleeblatt Ost.
       
       Bei Versorgungsproblemen unterstützen sich die Krankenhäuser der
       Kleeblätter erst einmal intern. Hat etwa Sachsen keine Intensivbetten mehr,
       fragt es Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Können diese Bundesländer
       auch keine Intensivpatient:innen mehr aufnehmen, werden sie in Regionen
       außerhalb des Kleeblattes verlegt. Das müssen nicht zwingend an das
       Kleeblatt angrenzende Bundesländer sein. Es wird das Bundesland mit den
       meisten freien Intensivbetten und dem geringsten Infektionsgeschehen
       ausgewählt. Es sind also auch Verlegungen von München nach Kiel denkbar.
       
       „Bisher mussten noch keine Patienten in ein anderes Kleeblatt verlegt
       werden“, sagt Jan-Thorsten Gräsner der taz, vermutet aber, dass es bald
       notwendig wird. Er ist Direktor des Instituts für Rettungs- und
       Notfallmedizin am Uniklinikum Schleswig-Holstein und leitet die
       Koordinierungsgruppe „Kleeblatt“.
       
       Der Transport von Covid-19-Patient:innen soll per Hubschrauber, Flugzeug
       oder Rettungswagen erfolgen. Auch die Möglichkeit, Patient:innen mit der
       Deutschen Bahn zu verlegen, gebe es. Diese verfüge über Rettungszüge, die
       man zu rollenden Intensivstationen umbauen könne. So könnte man bis zu
       zwanzig Intensivpatient:innen auf einmal verlegen. „Die Abstimmungen
       zwischen dem Verkehrsministerium und der Deutschen Bahn laufen hierzu auf
       Hochtouren“, sagt Gräsner. Er glaubt nicht, dass es bald zu Triage-Fällen
       kommt: „Ich gehe davon aus, dass wir mit der Kleeblatt-Strategie die
       Versorgung von Intensivpatienten in Deutschland sicherstellen.“
       
       Auch vom Senftenberger Klinikum Niederlausitz wurden inzwischen 59
       Coronapatienten in umliegende Kliniken verlegt, 12 allein in dieser Woche.
       Die nächsten Patienten stehen dann aber sofort in der Notaufnahme, sagt
       Geschäftsführer Tobias Vaasen. Die freigewordenen Betten sind umgehend neu
       belegt.
       
       Das Personal jedenfalls denke noch gar nicht an Weihnachten. Im
       brandenburgischen Senftenberg richtet man sich darauf ein, dass der Effekt
       des Lockdowns erst in einigen Wochen spürbar werde. „Allen ist klar: Das
       wird ein Marathon“, sagt Vaasen.
       
       18 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.divi.de/joomlatools-files/docman-files/publikationen/covid-19-dokumente/200417-divi-covid-19-ethik-empfehlung-version-2.pdf
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Manuela Heim
 (DIR) Rieke Wiemann
       
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