# taz.de -- Wallfahrt zu Jack Kerouacs Ursprung: Die Poesie der Straßenbilder
       
       > "On the road", sein legendärer Roman, wird derzeit neu übersetzt, in der
       > ungekürzten Version. Wo kam Jack Kerouac her? Ein Besuch in seiner
       > Heimatstadt Lowell, Massachusetts, 40 Jahre nach seinem Tod.
       
 (IMG) Bild: "Fabrikschornsteine, die höher aufragen als die Kirchtürme", schreibt Kerouac in "The Town and the City".
       
       Jack Kerouac war kein Zyniker wie William Burroughs, kein Revoluzzer wie
       Allen Ginsberg. In seinem Werk scheint eine ungebrochene Sehnsucht durch,
       eine Sehnsucht, deren Wurzeln vielleicht in seiner Kindheit in Lowell,
       Massachusetts, zu verorten sind. Immer wieder, auch schreibend, ist Kerouac
       hierher zurückgekehrt, den "Traum vom ursprünglichen New England im
       Herzen", wie es in "Maggie Cassidy" heißt, einem der fünf Bücher, deren
       heimlicher Protagonist die ehemalige Textilstadt am Merrimack River ist.
       
       Die Straße von Boston nach Lowell führt vorbei an einer endlosen Kette von
       Einfamilienhäusern, weiße Holzhäuser mit kürbisverzierten Vorgärten,
       rotbelaubte Bäume vor blauem Neu-England-Himmel. Meilenlang geht es so
       weiter, endlich ein weißes Schild: "Entering Lowell". Das blau-weiße Schild
       der Gulf-Tankstelle, Sunoco in Gelb und Rot, amerikanische Ikonen. Niemand
       hatte ein besseres Gespür für die Poesie dieser durch die Windschutzscheibe
       gerahmten Straßenbilder als Jack Kerouac: "Straße: Telegrafenmasten, /
       -drähte, Firestone Reifenschild / (flammend rosa und blau), altes /
       grauverwittertes Garagentor, / Kamin aus Ziegeln, mit Eisen / riegel ans
       Haus geheftet, / Lagerhalle aus Aluminium, alte / Straßenlaterne schwebt
       drüber."
       
       Auf der linken Seite erscheint das weitläufige Rasengelände des "Edson
       Cemetery", hier liegt er begraben. Die rechtwinklig angelegten Wege sind
       gesäumt von Ahornbäumen, hunderte Grabsteine stehen verstreut in alle
       Richtungen. Noch bevor wir den Weg erreicht haben, öffnet sich die Tür des
       Friedhofsgärtnerhauses am Eingang, eine resolute Frau streckt uns zwei
       kopierte Wegbeschreibungen entgegen: "Lookin for Jack?" Man sieht uns den
       Kerouac-Touristen an.
       
       Jack Kerouacs Grab ziert ein Arrangement aus leeren Bierflaschen und
       gerauchten Joints. "Ti Jean" ist in den flachen Stein gemeißelt, kleiner
       Jack, sein Spitzname innerhalb der Familie, die franko-kanadischer
       Abstammung war. Im Oktober 1969 ist er gestorben, mit 47, an den Folgen
       übermäßigen Alkoholkonsums.
       
       Jemand hat eine kleine amerikanische Flagge in die Erde gesteckt, daneben
       liegt ein verwaschener Brief. Was schreibt man heute an Jack Kerouac?
       
       Der Freiheitsdrang, der sein Alter Ego Sal in seinem berühmtesten Roman "On
       the Road" immer wieder aufbrechen lässt, dem "sich entrollenden weißen
       Strich" in der Mitte der Straße entlang westwärts zu folgen, ist immer noch
       ansteckend. Einzig die benzedrinbefeuerten Ehrlichkeitsexperimente von Neal
       Cassady und Allen Ginsberg - die in der um die übelsten Ausschweifungen
       bereinigten, 1957 publizierten Ausgabe verfremdet als Dean Moriarty und
       Carlo Marx vorkommen - wecken Erinnerungen an das abgestandene Gefasel auf
       Studenten-WG-Partys. Aber diese naive ziellose Suche nach einem
       unmittelbaren Erleben ist auch von unglaublicher Reinheit. Damals, in der
       starren, satten Gesellschaft des Nachkriegsamerika, gab es wenigstens noch
       etwas, dem man sich verweigern konnte, ohne gleich in Posen zu verfallen -
       "nur in die Nacht herausschleichen und irgendwo verschwinden und
       hinausgehen und herausfinden, was die Menschen im ganzen Lande machten".
       
       Immer noch berührend: Kerouacs Sprache. Die Poesie eines Augenblicks, die
       in der Wahrnehmung der Landschaft liegen kann, in der Schönheit eines
       Morgens, in der Süße der Luft. In der Melodie und dem vorwärtstreibenden
       Rhythmus der Sätze und in der Kunst, Stimmungen aus genauen Beschreibungen
       zu erzeugen, ist seine Prosa musikalisch und visuell zugleich, "bookmovie"
       nannte er das.
       
       Derzeit arbeitet Ulrich Blumenbach für Rowohlt an der deutschen
       Erstübersetzung des ursprünglichen Manuskripts, das in den USA vor zwei
       Jahren unter dem Titel "On the Road - The Original Scroll" herausgekommen
       ist: nach jener langen, aus Zeichenpapier zusammengeklebten Papierrolle,
       selbst einer endlosen Straße gleich, auf die Kerouac den Text 1951 in einem
       rauschhaften dreiwöchigen Arbeitsanfall getippt hat. Im Herbst 2010 soll
       die Ausgabe erscheinen, ungekürzt und mit den Originalnamen von Ginsberg,
       Cassady und Burroughs, zusammen mit ebenfalls erneuerten Fassungen der
       Romane "The Dharma Bums" und "The Subterraneans".
       
       Das ist ein Glück, denn vermutlich sind deren fürchterliche deutsche
       Dreifachtitel - "Gammler, Zen und hohe Berge" und "Bebop, Bars und weißes
       Pulver" - in Kombination mit unbeholfenen Eindeutschungen amerikanischer
       Slangausdrücke nicht ganz unschuldig daran, dass Jack Kerouac, ähnlich wie
       Henry Miller oder Charles Bukowski, noch immer als literarisch nicht ganz
       ernst zu nehmender Jugend-Kultautor abgetan wird. Dabei war Kerouac einer
       der einflussreichsten US-amerikanischen Lyriker der zweiten Hälfte des 20.
       Jahrhunderts, dessen Gedichtband "Mexico City Blues" den jungen Bob Dylan
       wesentlich beeinflusst hat. In ihrem Willen, sich direkt, spontan und von
       rationalem Denken unzensiert zu artikulieren, ähnelt Kerouacs zen- und
       schnapsgetränkte Lyrik jener seines Freundes Allen Ginsberg. "The last
       hotel / Ghosts in my bed / The goats I bled / The last hotel" heißt es in
       einem seiner schönsten Gedichte, postum erschienen im Band "Pomes all
       Sizes". In einem Film sieht man Dylan und Ginsberg an Kerouacs Grab, Dylan
       mit Federhut und Spazierstock, zwei schräge Vögel an einem trüben
       Herbsttag, die Gedichte rezitieren.
       
       In Lowell ist Jack Kerouac auf unaufdringlich sympathische Weise präsent.
       Sein Geburtshaus in Centralville jenseits des Merrimack River haben die
       heutigen Bewohner mit kitschiger Herbst-Deko behängt, am Rand der
       Hauptstraße sitzen alte Männer und sehen den Autos hinterher. Wir
       überqueren den Fluss, Blick auf die roten Backsteingebäude der alten
       Textilfabriken, in denen auch Kerouacs Mutter gearbeitet hat,
       "Fabrikschornsteine, die höher aufragen als die Kirchtürme", schreibt
       Kerouac in "The Town and the City". Sein 1950 erschienener Debütroman, eine
       500-seitige Hommage an seine Heimatstadt, liest sich noch völlig anders als
       das, was man vom späteren Kerouac kennt - epische Ausführungen,
       Psychologisierungen. Erst später, beeinflusst von Neal Cassady und
       mexikanischem Marihuana, entwickelte er seine autobiografische "spontane
       Prosa".
       
       Auf dem Parkplatz gegenüber der Lowell High School, in der bis heute
       Trophäen an den einst erfolgreichen Football-Star erinnern, skaten ein paar
       Jugendliche. Später ziehen sie zum Kerouac-Denkmal in der Bridge Street
       weiter, einem kleinen Park mit hohen Marmorblöcken, in die Texte Kerouacs
       eingraviert sind. Schräg gegenüber, im adrett gepflegten Geschichtspark der
       Stadt, kann man seinen grünen Rucksack und seine schwarze
       Underwood-Schreibmaschine begutachten, Insignien eines Schriftstellerlebens
       "on the road" - sogar ein Nähset hatte er auf seinen Reisen dabei. In einem
       bonbonfarbenen Diner downtown gibt es einen "On the
       Road"-Gedenk-Apfelkuchen mit Vanilleeis, Sals einzige Mahlzeit auf seiner
       Anhalterfahrt von New York an die Westküste. Die Buchhandlung gegenüber
       verkauft T-Shirts mit Kerouac-Konterfei.
       
       Jack Kerouac ist in Lowell so präsent wie Lowell in seinen Büchern. Die
       Sehnsuchtsorte in seinen Texten aber, diese uramerikanischen Mythen,
       beschwören immer noch etwas anderes, etwas, das über einen konkreten
       geografischen Ort hinausgeht: "Irgendetwas in der unsichtbar brütenden
       Landschaft rings um die Stadt, irgendetwas in den hellen Sternen dicht über
       der Anhöhe, irgendetwas in den sanft rauschenden Blättern über den Feldern
       und Steinwällen erzählt eine andere Geschichte."
       
       1 Nov 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lavinia Meier-Ewert
 (DIR) Andreas Resch
       
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