# taz.de -- Zukunft von Belarus: Ein Jahr Willkür und Repression
       
       > Lukaschenko, Europas dienstältester Diktator, versucht sich und Belarus
       > aus dem Krieg in der Ukraine herauszuhalten. Geht die Strategie auf?
       
 (IMG) Bild: Kadetten marschieren auf dem Siegesplatz im Zentrum von Minsk, Belarus, am 18. Februar 2022
       
       Das Urteil gegen Wital Melnik wurde am 22. Dezember verkündet: 16 Jahre
       Haftstrafe. Der 40-jährige Mann soll den belarussischen Diktator Alexander
       Lukaschenko in sozialen Netzwerken beleidigt, sich illegal Schusswaffen
       beschafft und zusammen mit drei Komplizen im März [1][eine Sabotage an
       Schienen geplant haben], um russische Militärtransporte in die Ukraine über
       Belarus zu verhindern. Nachdem er im April festgenommen worden war,
       stilisierte die Staatspropaganda den „Schienenpartisan“ zum „Terroristen“
       und verbreitete zur Abschreckung ein Video mit dem blutenden Häftling: Bei
       der Verhaftung wurde Melnik durch Schüsse in die Beine verletzt.
       
       Der 40-jährige Militärexperte Jahor Lebiadok wurde im Juli verhaftet. In
       seinem Telegram-Kanal und in unabhängigen Medien analysierte Lebiadok
       Russlands Krieg gegen die Ukraine und insbesondere die Rolle von Belarus.
       Nach seiner Festnahme wurde ein Reue-Video aufgenommen – eine bei der
       belarussischen Polizei beliebte Methode. Lebiadok wurde ein Kommentar für
       das Europäische Radio für Belarus zum Verhängnis. Der Sender aus Warschau
       gilt in Belarus inzwischen als „Extremistenverband“, dessen Tätigkeit
       Lebiadok durch seine Expertise begünstigt habe. Am 23. Dezember wurde er zu
       fünf Jahren Haft verurteilt.
       
       Harte, politisch motivierte und absurde Urteile sind in Belarus längst
       Alltag geworden. Wital Melnik und Jahor Lebiadok sind zwei Schicksale, die
       das belarussische Jahr 2022 widerspiegeln – ein Jahr von Repressionen und
       (Schein-)Konsolidierung der Diktatur.
       
       ## Das Regime setzt seine Repressionspolitik fort
       
       Im Jahr 2024 könnte Alexander Lukaschenko sein 30. Jubiläum an der Spitze
       der Republik Belarus feiern. Die Voraussetzungen dafür sind momentan
       günstig für Europas dienstältesten Diktator, der in der Staatspropaganda
       als weiser „Vater der Nation“, international bedeutender Staatsmann und
       alternativloser Retter aus Chaos und Not dargestellt wird.
       
       2022 hat der heute 68-jährige Lukaschenko die Weichen für seine Zukunft an
       der Macht gestellt. Sein Verfassungsreferendum fiel mit dem Kriegsausbruch
       zusammen und wurde kaum beachtet. Das Regime setzte seine
       Repressionspolitik fort, wobei die Anzahl politischer Gefangener inzwischen
       die Marke 1.450 übertroffen hat. Obschon der belarussische Kampf für
       Freiheit und Demokratie durch den Friedensnobelpreis für den inhaftierten
       Menschenrechtler Ales Bjaljazki gewürdigt wurde, ließ sich Lukaschenko von
       der internationalen Kritik nicht einschüchtern.
       
       ## Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit
       
       Willkürliche Festnahmen, fabrizierte Strafsachen und Folter gehören
       weiterhin zum Methodenarsenal belarussischer Sicherheitskräfte. Im Land
       herrscht die Stimmung von Angst, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit.
       
       Das Interesse für die Situation in Belarus nahm nach dem russischen
       Einmarsch in die Ukraine ab und wurde in der westlichen Presse erst im
       Zusammenhang mit Bjaljazkis Auszeichnung, mit dem Drama um Maria
       Kolesnikowa und mit dem Urteil gegen Aliaksandra Herasimenia aufgegriffen.
       Die 2021 zu elf Jahren Haft verurteilte Musikerin und Aktivistin
       Kolesnikowa kam im November auf eine Intensivstation und musste notoperiert
       werden.
       
       Die aktive Regierungskritikerin, frühere Profischwimmerin Herasimenia, die
       für Belarus insgesamt drei Olympia-Medaillen gewonnen hatte, wurde Ende
       Dezember 2022 in Abwesenheit zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Ansonsten
       stellte man sich im Westen 2022 vor allem eine belarussische Frage – die
       Kriegsfrage: Würde sich Lukaschenko dem russischen Angriffskrieg in der
       Ukraine anschließen und Truppen ins Nachbarland entsenden?
       
       ## Lukaschenkos Doppelstrategie
       
       Im Krieg entschied sich der Staatschef für eine Doppelstrategie. Auf einer
       Seite stellt er dem Kreml das belarussische Territorium zur Verfügung und
       unterstützt die Russen logistisch, politisch, propagandistisch und mit
       Waffen. Nach der Teilmobilmachung in Russland werden russische Soldaten in
       Belarus stationiert und ausgebildet. Der misslungene Angriff auf Kiew wurde
       von Belarus aus durchgeführt. In neuen russischen Angriffsplänen auf die
       ukrainische Hauptstadt soll Belarus erneut eine zentrale Rolle spielen.
       
       Auf anderer Seite schließt Lukaschenko die Entsendung belarussischer
       Soldaten in die Ukraine aus. Gleichzeitig wiederholt er aber russische
       antiukrainische und antiwestliche Propagandanarrative und stellt somit
       seine Moskau-Treue zur Schau. Die Staatsicherheit enttarnt immer wieder
       „ukrainische Agenten“ und verfolgt Sympathisant*innen der Ukraine.
       Hinzu kommen noch die von Minsk hervorgehobenen Bemühungen bei der
       Sicherung der Grenzen zu den Nato-Staaten, die als Beitrag zur russischen
       „militärischen Spezialoperation“ präsentiert werden: Falls die Allianz
       gegen Russland über Belarus marschieren würde, stünde die belarussische
       Armee den Russen zur Seite.
       
       Die Hetze gegen den „kollektiven Westen“ hindert jedoch die belarussische
       Führung nicht daran, Washington, London und Brüssel zum Dialog und zur
       Abschaffung der Sanktionen aufzurufen sowie Minsk als Standort möglicher
       Verhandlungen über die Ukraine – ähnlich wie 2014/15 – ins Spiel zu
       bringen.
       
       ## Ukraine ist für Belarus heißes Eisen
       
       Lukaschenkos verschwörungstheoretische Eskapaden und militante Rhetorik
       irritieren manchmal die westliche Öffentlichkeit. Sie sollen über seine
       zentrale Botschaft nicht hinwegtäuschen: Der Diktator will sich nicht aktiv
       am Krieg beteiligen. Und er hat gute Gründe dafür. Die belarussische
       Gesellschaft ist gespalten. Während viele Menschen unter dem Einfluss der
       russischen Propaganda stehen und Moskau unterstützen, gibt es zahlreiche
       „Neutrale“, die sich nicht positionieren wollen, und etliche
       Ukraine-Unterstützer*innen.
       
       Mehrere Belarussen kämpfen als Freiwillige an der Seite der Ukraine. Die
       prowestliche demokratische Bewegung unter Swetlana Tichanowskaja setzt auf
       einen ukrainischen Sieg, der die Befreiung ihrer Heimat von der
       prorussischen Diktatur begünstigen soll. Ein Einmarsch der belarussischen
       Armee in die Ukraine wird aber nicht nur von den Ukraine-Unterstützern,
       sondern auch von „Neutralen“ und den meisten Russland-Sympathisanten
       abgelehnt. Der russische Krieg bleibt für die meisten Belaruss*innen
       ein fremder Krieg.
       
       Unter diesen Umständen würde die aktive Kriegsbeteiligung, die zu
       erheblichen Verlusten führen und das Land zum Kriegsschauplatz machen
       würde, die vermeintliche Stabilität der Diktatur gefährden, was Lukaschenko
       angesichts seiner Erfahrungen mit der Protestbewegung 2020, weiterer
       westlicher Sanktionen und persönlicher juristischer Konsequenzen verhindern
       möchte.
       
       ## Der Westen belässt es bei Warnungen
       
       Geht Lukaschenkos Strategie auf? Zum Teil, ja! Die USA, EU und
       Großbritannien differenzieren zwischen dem Moskauer Aggressor und dem
       Minsker Co-Aggressor. Während harte Sanktionen gegen Russland und Belarus
       unmittelbar nach dem Einmarsch eingeführt wurden und im russischen Fall
       kontinuierlich verschärft werden, sieht man von neuen Maßnahmen gegen
       Lukaschenko ab und belässt es bei Warnungen.
       
       Diese ambivalente Politik soll zwar den Diktator von dem Kriegseinsatz
       abbringen. Sie bestärkt jedoch das Regime zugleich in seiner Überzeugung,
       keine Strafe für seine Untaten gegen die Zivilgesellschaft befürchten zu
       müssen.
       
       ## „Slawische UdSSR“ oder Demokratie in Belarus
       
       Der von Minsk ersehnte Dialog mit dem Westen kommt nicht zustande. Als
       Co-Aggressor scheidet Belarus als Standort möglicher Verhandlungen über die
       Ukraine aus. Lukaschenkos Eigenständigkeit wird ohnehin in Frage gestellt.
       Er gilt eher als eine „russische Marionette“, während Putin das letzte Wort
       hat – über Krieg, Frieden und letztendlich über einen Kriegseinsatz
       belarussischer Truppen.
       
       Lukaschenko hat das Schicksal von Belarus mit dem Krieg verknüpft. Da Putin
       offen die „Vereinigung des russischen Volkes“ anstrebt und dabei
       Ukrainer*innen und Belarus*innen als Russen*innen betrachtet,
       könnte Moskaus Sieg die Eingliederung von Belarus in die „slawische UdSSR“
       herbeiführen. Sollte Russland sein Ziel verfehlen und aus dem Krieg
       geschwächt hervorgehen, könnte Lukaschenkos Herrschaft zu bröckeln
       beginnen. Sollte aber der Krieg mit einem ukrainischen Sieg und dem
       Untergang des Putin-Regimes enden, ist die Diktatur wohl nicht zu retten
       und der Weg ist frei zu Demokratie und Freiheit in Belarus.
       
       4 Jan 2023
       
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