# taz.de -- Essay zu Flüchtlingspolitik: Aufklärung vor Europäern retten
       
       > Nicht nur Geflüchtete sind in Gefahr. Auch die Ideale des Kosmopolitismus
       > und Humanismus müssen vor der EU-Migrationspolitik gerettet werden.
       
 (IMG) Bild: „Kaum ein Recht wurde so verletzt wie das Recht auf Bewegungsfreiheit.“ Melilla, Mai 2014.
       
       In seiner Schrift [1][„Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“]
       von 1795 bemerkt Immanuel Kant, dass alle „Weltbürger“ ein Recht auf
       Bewegungsfreiheit haben sollten, ein Recht, das er in der gemeinsamen
       Eigentümerschaft an der Erde auf Seiten der ganzen Menschheit verankert.
       Heute können wir uns kaum ein Recht vorstellen, das so umfassend verletzt
       worden ist wie das Recht auf Bewegungsfreiheit.
       
       Migrant_innen sind gewissermaßen die Überbringer der Botschaft Kants
       hinsichtlich des kosmopolitischen Rechts, sich furchtlos und frei über
       Grenzen hinweg zu bewegen, während die vor der Haustür Europas
       stattfindende humanitäre Katastrophe einen europäischen, letztlich einen
       Verrat an den Prinzipien der Aufklärung darstellen.
       
       Kant schlägt einen „Kosmopolitismus“ als Leitprinzip vor, um Menschen vor
       Krieg zu schützen und gleichsam ein Recht zu etablieren, das moralisch auf
       dem Prinzip universeller Gastfreundschaft zu begründen wäre. Durch die
       Förderung von Sozialität und Menschlichkeit symbolisiert der
       Kosmopolitismus eine transkulturelle Kompetenz der Aushandlung kultureller
       Differenz, einen Schritt über ein enges territoriales Verständnis von
       Identität und Zugehörigkeit hinaus.
       
       Trotz nationaler, religiöser, ethnischer und geschlechtsspezifischer
       Differenzen begründen, auf der Grundlage ihrer geteilten Vergangenheiten
       und miteinander verwobenen Zukünfte, alle Menschen eine einzige globale
       Gemeinschaft. Kant zufolge handeln Weltbürger vom pluralistischen
       Standpunkt der Menschheit aus als kollektive Akteure und nicht aus der
       Position egoistischer Individuen heraus.
       
       Basierend auf der normativen Befürwortung eines expansiven globalen
       Bewusstseins, lehnt ein Kosmopolitismus enge und beschränkte territoriale
       Loyalitäten ab. Von uns als Bürger_innen liberaler Demokratien wird
       erwartet, dass wir Verantwortung jenseits der Schranken unseres eigenen
       beschränkten Eigeninteresses übernehmen – dies insbesondere im Hinblick auf
       wachsende globale interdependente Abhängigkeiten. Das normative Ideal des
       Aufklärungskonzepts des Kosmopolitismus ist das Streben nach einer
       perfekten Zivilunion der Menschheit.
       
       ## Sterben lassen zur Sicherung der Grenzen
       
       Die jüngsten Tragödien an den Küsten Europas signalisieren wiederum ein
       Scheitern der Aufklärung und deren Prämissen „Menschlichkeit“ und
       „Humanismus“. Erneut sind wir Zeugen einer Krise der europäischen
       Ambitionen, der Garant globaler Gerechtigkeit, Menschenrechte und
       Demokratie zu sein. Die Enttäuschung über Europa in Folge des Kolonialismus
       und des Holocausts rückt nochmals ins Blickfeld und ruft zur Reflexion auf.
       
       Die gegenwärtige Grenzpolitik der EU, so muss unumwunden bemerkt werden,
       läuft darauf hinaus, Migrant_innen im Namen der Sicherung der europäischen
       Grenzen sterben zu lassen.
       
       ## An Bedingungen geknüpfte Gastfreundschaft
       
       In seiner dekonstruktiven Lesart der kantischen kosmopolitischen Ethik legt
       Jacques Derrida dar, dass die kant’sche Gastfreundschaft letztendlich nur
       eine eingeschränkte Geltung habe, da sie an die fragwürdige Bedingung
       geknüpft bleibe, dass die Gäste sich benehmen. Derrida spürt hier Elemente
       einer Feindseligkeit auf, die ein intrinsischer Teil der kant’schen
       Reflexionen über Gastfreundschaft sind und spricht in diesem Zusammenhang
       von der „Hostpitalität“, also feindseligen Gastfreundschaft – der
       „bedingten Gastfreundschaft“ Kants.
       
       Nach Derrida würde eine wahrhaft kosmopolitische Ethik absolute
       Gastfreundschaft beinhalten, die bedingungslos sein müsse und die sich
       nicht dadurch eingeschränkt zeige, dass die Gäste Kriterien oder Pflichten
       erfüllen müssten, um eben jene Gastfreundschaft zu genießen.
       
       Die Verwundbarkeit der dem Meer schutzlos Ausgelieferten zeugt von der
       Tatsache, dass die progressiven Ziele der Aufklärung in Europa, ihrem
       angeblichen Geburtsort, bedroht sind. Um der weitreichenden Verdrossenheit
       über die hohen Prinzipien der Aufklärung entgegenzuwirken, müssen drum die
       Normen des Kosmopolitismus und des Humanismus vor der zynischen
       Vorgehensweise der Migrationspolitik der EU gerettet werden.
       
       Die jüngsten Schiffsunglücke im Mittelmeer sind eine grausige Erinnerung
       daran, dass im postkolonialen Europa nicht nur Geflüchtete sondern die
       Aufklärungsideale selbst in Gefahr sind.
       
       5 May 2015
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://philosophiebuch.de/ewfried.htm
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nikita Dhawan
       
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