# taz.de -- Die Streitfrage: „Hausarztsystem für Therapeuten“
       
       > Nach der Germanwings-Katastrophe werden mehr PsychotherapeutInnen
       > gefordert. Doch auch Qualität und Verteilung der Hilfe sind wichtig.
       
 (IMG) Bild: Wohin, wenn es psychisch nicht mehr geht? Zum Beispiel in die Ambulanz.
       
       Der Fall des depressiven Kopiloten Andreas Lubitz hat die Diskussion über
       den Umgang mit der Volkskrankheit Depression neu entfacht. Die Präsidentin
       der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Andrea Abele-Brehm, 65, fordert
       ein neues System der Unterstützung für psychisch Kranke, eine Art
       Hausarztsystem auf Psychotherapeutenebene. „Akut Kranke bekommen nicht
       schnell genug Hilfe“, sagt die Professorin für Sozialpsychologie der taz.
       am wochenende.
       
       Andreas Lubitz hatte vor knapp drei Wochen nicht nur sich selbst, sondern
       auch 149 weitere Menschen getötet. Doch mit einer größeren Anzahl von
       PsychotherapeutInnen sei es nicht getan, sagen Experten. Die Verteilung und
       Qualität der Versorgung psychisch Erkrankter sei ebenso wichtig, wie ein
       enttabuisierter Umgang mit solchen Erkrankungen.
       
       Der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach fordert in der taz. am wochenende,
       dass sich die Politik um die bessere Verteilung der PsychotherapeutInnen
       kümmern sollte. Er beobachtet eine Aufwertung der Psychotherapie. Man
       stelle fest, dass die unbalanchierten chemischen Prozesse im Gehirn vieler
       depressiver Menschen ihre Ursache in den Lebensumständen haben. Sie könnten
       durch Formen der Psychotherapie oft kausal geheilt werden.
       
       ## #notjustsad – mit dem Hashtag gegen das Stigma
       
       Die Aktivistin Malaika Bunzenthal, 25, betont, dass psychische Erkrankungen
       keine erhöhte Fremdgefährdung bedeuten. Sie würden vor allem Gefahr für die
       Betroffenen selbst bergen. Die Studentin und Erfinderin des Hashtags
       #notjustsad kämpft gegen die Stigmatisierung psychisch Kranker. Auch die
       Versorgung sieht Bunzenthal kritisch: „Betroffene warten im Durchschnitt
       sechs Monate auf einen Therapieplatz. Doch lange Wartezeiten bringen oft
       eine Verschlechterung des Krankheitsverlaufs – schlimmstenfalls bis hin zum
       Suizid“, sagt sie der taz.am wochenende.
       
       Auch Gesine Schwan, die selbst Mitte der Neunzigerjahre an Depressionen
       litt, kritisiert die Stigmatisierung und Tabuisierung psychischer
       Erkrankungen. Diese nähme zu, je stärker autoritäre Menschenbilder in einer
       Gesellschaft vorherrschen, in der nur gesunde Menschen etwas wert seien.
       Allerdings übt die Präsidentin der Humboldt-Viadrina Governance Platform
       auch Kritik an der Qualität der Versorgung. „Man sollte psychische
       Erkrankungen nicht nur durch Medikamente angehen. Wir brauchen gute
       Psychotherapeuten. Beim Germanwings-Piloten hätte das aber wohl nicht
       gereicht“, sagt Schwan der taz.am wochenende.
       
       Das findet auch Peter Lehmann, Inhaber des Antipsychiatrieverlags. Er
       fordert Therapeuten, die die Verabreichung von Antidepressiva kritisch
       sehen. Sie sollten ihren Klienten bei der Bewältigung ihrer
       sozialpsychologischen Probleme helfen. „Antidepressiva lösen keine
       Probleme“, sagt Lehmann: „Sie machen langfristig abhängig, chronifizieren
       Depressionen und können suizidale Handlungen auslösen.“
       
       ## 
       
       Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität
       Bremen, stimmt dem teilweise zu. „Psychopharmaka helfen meist nur
       kurzfristig, längerfristig gibt es keine Alternative zu Psychotherapie.
       Aber auch deren Wirksamkeit ist geringer als behauptet“, sagt er der taz.am
       wochenende. Der Direktor des Zentrums für Kognitionswissenschaften fordert
       deshalb eine bessere wissenschaftlich-empirische Fundierung von
       Psychotherapie.
       
       Doch das Problem der Unterversorgung psychisch kranker Menschen lässt sich
       nicht von der Hand weisen. „In Großstädten ist die Versorgungsdichte mit 39
       Psychotherapeuten sehr viel höher als in ländlichen Gebieten mit sechs
       Psychotherapeuten je 100.000 Einwohner, obwohl sich der Bedarf wenig
       unterscheidet“, erklärt der Diplom-Psychologe Fritz Propach: „Daher sollte
       es mehr Psychotherapeuten geben – vor allem in ländlichen Gebieten.“
       
       Außerdem diskutierten mit: die Sängerin Nina Hagen, Frank Bergmann vom
       Berufsverband Deutscher Psychiater, die Bloggerin Jana Seelig und der
       taz-Leser Nils Kraus, der die Streitfrage per Mail kommentiert hat.
       
       11 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tobias Hausdorf
       
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