# taz.de -- Briefwechsel Reich-Ranicki und Rühmkorf: Er hat nie was hingewichst
       
       > Die Korrespondenz zwischen Reich-Ranicki und Peter Rühmkorf ist ein
       > politisches Zeitdokument und erzählt von den Bedingungen des
       > Publizierens.
       
 (IMG) Bild: Hat sich auf hohem Niveau mit Marcel Reich-Ranicki gefetzt: Peter Rühmkorf im Dezember 1985.
       
       Peter Rühmkorf war ein großartiger Zeitungsschreiber und zugleich ein
       hoffnungslos unprofessioneller. Immer wieder lässt er Abgabetermine
       verstreichen, bittet wortreich klagend über seine unmenschliche
       Arbeitsbelastung um Aufschub und liefert schließlich gar nicht mehr. „Sie
       erinnern mich als Kritiker an jene Herren, die gierig auf Damen blicken und
       dann, wenn die Dame bei ihnen ist, selbige nicht einmal anfassen wollen“,
       wirft Marcel Reich-Ranicki ihm nach einer Weile vor. „Ich höre nicht auf zu
       hoffen, daß Sie sich bessern werden und warte sehnsüchtig auf eine
       Nachricht von Ihnen.“
       
       Reich-Ranicki, der publizistische Vollprofi, unter dessen Leitung das
       FAZ-Literaturressort die Reputation erwirbt, von der es bis heute zehrt,
       weiß von Anfang an, was er an Rühmkorf als Beiträger hat, und er weiß auch,
       wie er mit einem selbstverliebten, etwas flatterhaften, offenbar chaotisch
       arbeitenden, aber eben auch mit Witz, Einfallsreichtum und enormer
       stilistischer Blendkraft gesegneten „Dichter“ umgehen muss. Er spielt schon
       bald, mit hübscher Ironie moderiert, die Rolle des wohltätigen Patriarchen,
       der nie einen Zweifel daran lässt, wie sehr er ihm gewogen ist, der aber ob
       der Flausen seines Lieblings nur mit dem Kopf schütteln kann. Und der
       manchmal eben auch schimpfen muss.
       
       „Mein lieber Peter Rühmkorf, so geht das nicht weiter. Sie liefern nichts,
       kommen mit immer neuen Vorschlägen, denen wiederum immer neue Ausreden
       folgen. Unsere Gespräche sind überaus angenehm, aber die Leser der FAZ
       haben davon gar nichts. Seit einem Jahr ist bei Ihnen der Ehrenstein-Band.
       Wie lange noch sollen wir warten? Warum sind Sie so faul? Sie wünschten
       dringend Bücher des Poeten Gernhardt. Wir haben Ihnen im Januar drei Bände
       geschickt. Und was haben wir bekommen? Sie wünschten Thérame ’Die
       Taxifahrerin‘. Vermutlich handelt es sich um irgendeine Sauerei, die Sie
       inzwischen schon genossen haben, ohne an Ihrem Genuß die Leser unserer
       Zeitung teilnehmen zu lassen ? Kurz und gut: bessern Sie sich endlich und
       schicken Sie mir Manuskripte. Meine Geduld ist groß, doch nicht
       grenzenlos.“
       
       Schon im ersten Briefwechsel im August 1974 werden die Rollen festgelegt.
       Rühmkorf liefert seinen Einstandstext, eine Ringelnatz-Interpretation für
       die Frankfurter Anthologie, und schlägt gleich mal auf die Pauke, damit
       sein Gegenüber den Text auch hinreichend ästimiert. „Habe eben den Schluß
       nochmal umgeschrieben, was bei meinen Bohrtiefen wieder einen ganzen Tag
       gedauert hat.“ Deshalb schlägt er eine besondere Honorierung vor. „Es würde
       der weiteren Zusammenarbeit ein gutes Fundament einziehen helfen. Die
       Gerechtigkeit gegenüber den Kollegen bliebe in jedem Fall gewahrt, weil ich
       nie was hinwichse, immer Grundlagenforschung mitliefre.“
       
       Reich-Ranicki lässt nichts anbrennen, lobt den Autor gebührend und sichert
       ihm seine ungeteilte Unterstützung zu. „Was das Finanzielle betrifft: Sie
       können sicher sein, daß ich Sie so gut behandeln werde, wie Sie es
       verdienen – und ich meine das nicht etwa ironisch.“
       
       ## Dringende Ermahnungen, laustarkes Wehklagen
       
       Und so läuft die Zusammenarbeit tatsächlich über viele Jahre. Reich-Ranicki
       „triezt“ Rühmkorf mit freundlichen Gesuchen, Erinnerungen, dringenden
       Ermahnungen und lautstarkem Wehklagen und nimmt ihm auf der anderen Seite
       so gut wie alles ab, sogar wenn es ihm inhaltlich gegen den Strich geht.
       „Inzwischen habe ich Ihr Thomas-Mann-Manuskript gelesen. Ich finde jeden
       Satz, ja jedes Wort in Ihrem Manuskript ganz und gar falsch. Aber ich habe
       Ihre Ausführungen mit großem Vergnügen gelesen und wir werden sie gern und
       mit Vergnügen publizieren.“
       
       Was Rühmkorf noch wichtiger ist, man zahlt ihm fürstliche Honorare dafür.
       Vor allem nachdem er sich fest an das Blatt gebunden und Reich-Ranicki die
       Exklusivrechte seiner Texte zugesichert hat. Dabei ist Reich-Ranicki kein
       völlig unkritischer Bewunderer der Rühmkorf’schen Formulierungskunst.
       Angesichts seiner Besprechung einer von Jürgen Theobaldy herausgegebenen
       Lyrik-Anthologie kann sich der Redakteur „die Bemerkung nicht verkneifen,
       daß manche Sätze Ihrer Kritik so überaus kunstvoll konstruiert, wenn nicht
       gebastelt sind, daß man sie mindestens zweimal lesen muß und zwar nicht nur
       deshalb, weil man den Genuß verdoppeln, sondern weil man auch den Sinn
       verstehen möchte. Fassen Sie bitte diesen bescheidenen Hinweis als
       freundliche Warnung auf. Wer Kritiken schreibt, will ja, wie schon Fontane
       gesagt hat, vor allem verstanden werden. Ich habe den Eindruck, daß Sie es
       bisweilen Ihren Lesern etwas schwer machen.“
       
       Und die in dem Band abgedruckten, von Rühmkorf zu Recht nicht in seine
       Sammelbände aufgenommenen Kritiken zeigen ganz schön die etwas verkrampfte
       Überamplifiziertheit, die ihm schon mal unterlaufen ist, wie er selbst
       zugibt, wenn er „drei unterschiedliche Gedanken in einen Satz pressen“
       muss.
       
       Das ist dann aber auch schon das Äußerste an Kritik, das Reich-Ranicki
       seinem Autor zumutet. Und solange der die Texte trotzdem abnimmt, halten
       sich die Verstimmungen in Grenzen. Erst als Reich-Ranicki Rühmkorfs
       Interpretation eines Gedichts von Arno Schmidt ablehnt – es ist schlicht zu
       lang für die Frankfurter Anthologie –, bricht eine alte ideologische
       Neuralgie gegenüber dem Blatt auf, die zuvor durch die gedeihliche
       Kollaboration weitgehend verheilt schien.
       
       Nicht „in der Länge liegt hier die Enge“, betont Rühmkorf, „sondern in der
       merklich geschrumpften Brust der FAZ – die hat nicht mehr die schöne
       pluralistische Breite von Anno 76–80. Machen wir uns nichts vor und fassen
       Ihre Schwierigkeiten ins Auge. Der Wind, wir wissen es, hat sich gedreht,
       der Trend sich gewendet, und die geliebt-gelobten Fuffziger sind (wo auch
       nicht als Schwung der Räder, Vormarsch der Förderbänder) so doch als
       ideologischer Stickmief richtig hübsch wieder real geworden. Da bilden sich
       denn so kleine Modellfälle wie der unsere quasi unter der Hand.“
       
       ## „Gekränkt und verletzt“
       
       Reich-Ranicki reagiert postwendend. Rühmkorfs Brief sei eine
       „Unverschämtheit“, ja „viel schlimmer: Ihr Brief ist töricht.“ „Im Rahmen
       zumindest jenes Teils dieser Zeitung, den ich verwalte, also der Literatur,
       hat sich absolut nichts geändert. Sie können offenbar nicht begreifen, was
       Freiheit und Toleranz bedeuten. Ich bin in dieser Zeitung nun bald zehn
       Jahre, und es gibt noch keinen einzigen Artikel, keinen einzigen Absatz,
       den ich hier gedruckt sehen wollte und der unveröffentlicht geblieben wäre.
       Die Freiheit, von der ich hier übrigens dankbar profitiere, ist heute
       genauso groß wie vor fünf oder acht Jahren.“
       
       Er gibt zu, „gekränkt und verletzt“ zu sein, aber nicht einmal das werde
       einen Einfluss haben auf ihre Zusammenarbeit. „Am Ende bleibt mir ein
       Trost: die stille Hoffnung nämlich, daß Ihr Brief in einer Stunde
       reduzierter Zurechnungsfähigkeit geschrieben wurde. Und diese meine
       Hoffnung werden Sie sehr wohl begreifen, wenn Sie die Güte hätten, sich zu
       erinnern, wie die FAZ und wie ich sich Ihnen gegenüber in ausnahmslos allen
       Situationen im Laufe der letzten zehn Jahre verhalten haben.“
       
       Dieser Riss kann noch einmal gekittet werden, er weist aber schon voraus
       auf das tiefe Zerwürfnis über zehn Jahre später. Reich-Ranicki hatte Günter
       Grass’ „Ein weites Feld“ auf ziemlich degoutante Weise verrissen. Einmal
       mehr wähnt Rühmkorf, und dieses Mal vielleicht nicht ganz zu Unrecht,
       dubiosen „Parteigeist“ am Werk. Er glaubt sich zwischen den Fronten
       entscheiden zu müssen, schlägt sich auf die Seite von Grass und wendet sich
       dezidiert gegen eine solche „zur ideologischen Lehrmeisterin verklärten
       Kritik“.
       
       Kurze Zeit später lässt Rühmkorf dann auch noch eine öffentliche Abrechnung
       folgen, das aus Briefen, Tagebucheinträgen und einer Festrede montierte
       Pamphlet „Ich habe Lust, im weiten Feld …“, in dem er Reich-Ranicki als
       „Renegatenmacher“ zu entlarven versucht, der gern linke Genossen durch gute
       Fütterung an den FAZ-Fleischtöpfen bekehrt habe.
       
       ## Reich-Ranicki war Gesinnung herzlich egal
       
       Aber spätestens an dieser Stelle übersieht der Dichter doch wohl den
       Pragmatismus des Kritikers und Blattmachers. Reich-Ranicki war Gesinnung
       herzlich egal oder zumindest konnte er jederzeit davon absehen, wenn er
       glaubte, damit der Literatur einen Dienst zu erweisen. Er kam um die linke
       Intelligenzija schlicht nicht herum, das ist der einzige Grund für die
       Rekrutierung von Rühmkorf, Enzensberger, Erich Fried et alii. Sein
       unermüdlicher Einsatz hinter den Kulissen für den „roten“ Rühmkorf, dem
       nicht zuletzt aufgrund der Strippenzieherei Reich-Ranickis ab Mitte der
       70er Jahre die Preise zufliegen – wofür der Förderer aber auch einmal zu
       oft Dank einfordert –, lässt sich nur mit einiger verquerer Rabulistik als
       politisches Missionierungsmanöver interpretieren.
       
       Vielleicht hat Rühmkorf das am Ende eingesehen. Er schickt ihm jedenfalls
       zum 80. Geburtstag, fünf Jahre später, ein hübsches Versöhnungsgedicht:
       
       Gestatten einen Lungenzug 
       
       aus langer Friedenspfeife. 
       
       Fünf Jahre Fehde sind genug, 
       
       wie ich die Welt begreife. 
       
       Zum Frieden ist es nie zu spät, 
       
       na wollen wir’s mal hoffen, 
       
       daß diese Prise Calumet 
       
       nicht einfach so vorüberweht, 
       
       und wenn die neue Zehn angeht, 
       
       noch alte Wunden offen. 
       
       Es gibt diesem Briefwechsel, den Christoph Hilse und Stephan Opitz
       vorbildlich ediert und konzise kommentiert haben, eine menschenfreundliche
       Rundung, dass Reich-Ranicki das Friedensangebot tatsächlich annimmt und sie
       in den letzten Jahren zu einem vergnügten Arbeitsverhältnis zurückfinden.
       Vorher muss Rühmkorf allerdings, das ist die Bedingung, einen Artikel über
       seine Arbeit schreiben – „nicht unbedingt liebevoll, doch freundlich und
       respektvoll“. Man lernt hier auch einiges über die Spielregeln des
       Betriebs.
       
       25 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Frank Schäfer
       
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