# taz.de -- Jahrestag in Syrien: Wo der Aufstand begann und lebt
       
       > Daraa im Süden des Landes gilt als die Wiege der Revolution. Nur hier
       > haben gemäßigte Rebellen heute noch entscheidenden Einfluss.
       
 (IMG) Bild: Demonstration in Daraa am 24.4.2011. Zu diesem Zeitpunkt wurden bereits Dutzende Zivilisten erschossen.
       
       BERLIN taz | Ein Blick in den Süden Syriens lohnt sich. Es war in der
       80.000-Einwohner-Stadt Daraa, wo im März 2011 die ersten großen Proteste
       stattfanden, die ersten Demonstranten starben, die ersten Panzer rollten,
       die ersten Soldaten desertierten. Und es ist die Provinz Daraa, in der die
       gemäßigten Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) bis heute bedeutend
       sind. Im Gegensatz zum restlichen Syrien, das von Pro-Regime-Milizen,
       Islamisten, Dschihadisten oder Kurden dominiert wird.
       
       Dabei ist in Daraa vieles wie anderswo. 2011 leiden die Menschen unter
       einer jahrelangen Dürre und einer ausufernden Bürokratie. Geheimdienste
       gängeln Bauern und Geschäftsleute, indem sie Saatgut und Genehmigungen nur
       gegen Schmiergelder verteilen. Verantwortlich für Korruption und Willkür
       ist Geheimdienstchef Atef Najib, Assads Cousin und Statthalter im Süden.
       Arrogant und skrupellos geht er im März 2011 den entscheidenden Schritt zu
       weit.
       
       Angeregt durch die Umbrüche in Tunesien und Ägypten, malen Schulkinder
       regimekritische Parolen an die Mauern ihrer Schule, werden verhaftet und
       gefoltert. Die Familien gehen zu Najib, um die Freilassung ihrer Kinder zu
       fordern – vergeblich. „Vergesst diese Kinder, geht nach Hause und macht
       neue, und wenn ihr Hilfe braucht, schickt uns eure Frauen“, soll der gesagt
       haben. Am 18. März tragen Hunderte Bewohner von Daraa ihre angestaute Wut
       auf die Straße.
       
       ## Städte und Dörfer solidarisieren sich mit den Protesten in Daraa
       
       Das Regime reagiert mit Gewalt. Vier Demonstranten werden erschossen, ihr
       Beerdigungszug wird zum nächsten Protestmarsch, in den folgenden Wochen
       solidarisieren sich Städte und Dörfer in ganz Syrien mit dem Widerstand.
       Für Assad sind die Demonstranten von Anfang an Terroristen und ausländische
       Agenten. Um diese Propaganda wahr werden zu lassen, entlässt er
       Dschihadisten aus dem Gefängnis, schürt konfessionellen Hass und schickt
       Provokateure des Geheimdienstes.
       
       Bis zum Sommer 2011 weitet sich die Revolution zu einer landesweiten, aber
       dezentralen Bewegung aus, Millionen Syrer demonstrieren an Dutzenden von
       Orten. Assad fühlt sich bedroht, er lässt die Proteste niederschlagen – mit
       Scharfschützen, Panzern, Raketen, Kampfjets, Chemiewaffen und Fassbomben.
       Die Revolution militarisiert und radikalisiert sich. Ausländische Akteure
       mischen sich ein – erst Iran, die libanesische Hisbollah und Russland auf
       Regimeseite, dann Katar, Saudi-Arabien und die Türkei auf Oppositionsseite.
       Weil der Westen viel redet, aber wenig hilft, geraten die gemäßigten
       Rebellen und der zivile Widerstand ins Hintertreffen. Angelockt vom
       Staatszerfall, kommen ab 2013 Al-Qaida-Gruppen ins Land, heute sind IS und
       die Nusra-Front die mächtigsten unter den Assad-Gegnern.
       
       ## Die FSA hat in der Provinz die Unterstützung der Bevölkerung
       
       Nur im Süden haben gemäßigte Rebellen noch entscheidenden Einfluss. Zwar
       ist die Nusra-Front auch in Daraa präsent, aber anders als im Norden
       arbeiten die FSA-Brigaden dort effektiver zusammen. Das hat mit ihrer
       Organisation und ihrer ausländischen Unterstützung zu tun. Ein US-geführtes
       Military Operations Center (MOC) in Jordanien kanalisiert militärische
       Hilfe zu den verbündeten Gruppen in Syrien, die sich zunächst im
       Daraa-Militärrat, später in der Ersten Armee zusammenschließen und aus
       Kämpfern der Region bestehen.
       
       Auch hier ist die Unterstützung halbherzig, so dass die FSA bei großen
       Operationen mit der Nusra-Front zusammenarbeiten muss. Eine Zerschlagung
       oder Übernahme ganzer Einheiten durch die Nusra-Front wie in Idlib oder
       Aleppo hat es in Daraa jedoch noch nicht gegeben. Zwar ist Nusra den
       moderaten Rebellen militärisch überlegen, aber bislang hat die FSA im Süden
       zwei entscheidende Vorteile – sie hat mehr Kämpfer und den Rückhalt der
       Bevölkerung.
       
       ## Zivilgesellschaftliche Gruppen sind weiterhin aktiv
       
       Daneben kümmern sich zivilgesellschaftliche Organisationen effektiv um
       Verwaltung und Versorgung in den „befreiten“ Gebieten, sagt Khaled Yacoub
       Oweis, ehemaliger Reuters-Korrespondent in Syrien und Stipendiat bei der
       Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Oweis hat die Lage im
       Süden untersucht und festgestellt, dass die Infrastruktur im Gegensatz zum
       Norden des Landes weitgehend verschont geblieben ist, weil beide Seiten
       sich gegenseitig brauchen. So liefere Daraa Wasser in die vom Regime
       kontrollierte Nachbarprovinz Suweida, während umgekehrt Suweida Daraa mit
       Strom versorge.
       
       Insgesamt ist das Kräfteverhältnis zwischen Regime und Opposition im Süden
       ausgewogener, was auch die Chancen für lokale Waffenstillstände erhöht,
       meint der Journalist. Denn während die Feuerpausen anderswo meist einer
       Kapitulation der Rebellen gleichkamen, haben in Daraa beide Seiten ähnlich
       starke Verhandlungspositionen, was zu dauerhaften Kompromissen führen
       könnte.
       
       ## Assad will Gemäßigte in die Arme von der Nusra-Front und des IS treiben
       
       Doch Assad hat andere Pläne. Mit einer Offensive im Süden versucht er
       derzeit, den Widerstand zu schwächen und gemäßigte Rebellen in die Hände
       von Nusra und IS zu treiben. Dann kann er seinen Krieg gegen Zivilisten
       auch dort als Anti-Terror-Kampf deklarieren. Daneben ist die Region wichtig
       als Verbindungsachse zwischen Damaskus und Jordanien und wegen ihrer Nähe
       zu den rebellenkontrollierten Vororten der Hauptstadt und zu den von Israel
       besetzten Golanhöhen, auf denen die Nusra-Front bereits Stellungen hält.
       
       Statt sich in Syrien nur auf den IS zu konzentrieren, wie es der Westen
       seit Sommer 2014 tut, sollte er den Ursprung der Radikalisierung, den
       brutalen Machterhalt Assads, nicht vernachlässigen. Das gilt auch für den
       Süden, wo die gewünschten Partner dem MOC bekannt und in der Lage sind, den
       Dschihadisten entgegenzutreten. Dafür müssen sie aber vor allem eines: den
       Kampf gegen Assad anführen. Nur so wird die FSA den Radikalen das Wasser
       abgraben. Nur wenn sie auf die militärische Unterstützung der Nusra-Front
       verzichten kann, wird diese an Bedeutung und Attraktivität verlieren.
       
       17 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kristin Helberg
       
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