# taz.de -- Die Wahrheit: Die einander erkannten
       
       > Eine unbekannte Erzählung von Heinrich Böll wurde von einem
       > Literaturarchäologen wiederentdeckt. Die Wahrheit veröffentlicht sie hier
       > zum ersten Mal.
       
 (IMG) Bild: Noch immer bilden Rhein, Dom und Böll das Kölner Dreigestirn.
       
       Bei Aufräumarbeiten in seinem Archiv hat unser Autor Gerhard Henschel eine
       bis heute unveröffentlichte Erzählung mit dem Titel „Die sich erkannten“
       wiedergefunden, die ihm im Jahr 1984 von Heinrich Böll mit der Bitte um
       eine Beurteilung zugesandt worden war. Henschels Antwortbrief ist leider
       verschollen, doch Bölls Erzählung hat sich erhalten, und wir freuen uns,
       sie der Öffentlichkeit an dieser Stelle exklusiv präsentieren zu können. 
       
       Paul Klurr-Panuffke zögerte. Seine Hände wirkten klobiger als die des
       Mädchens, das Mathilde hieß. Mathilde Brixendoncker. Nach einer Weile sagte
       er, ohne das Mädchen anzusehen: „Ich weiß nicht so recht, wo ich anfangen
       soll.“
       
       Sie saßen auf der Bank an der Bahnhofsbushaltestelle. Ein Omnibus der
       Stadtlinie 19 fuhr hier manchmal vorüber, doch meistens abweichend von dem
       gelblich gewordenen Fahrplan, der in einem grüngestrichenen Metallrahmen an
       der Haltestellenstange befestigt war.
       
       „Du weißt doch“, sagte Mathilde leise, „daß ich lesbisch bin. Und eine
       Freundin habe.“
       
       „Ja. Gertrude Flindiger-Blöss, die in den Zeiss-Werken arbeitet. Liebt sie
       dich?“
       
       „Das ist eine große Frage.“
       
       „Und liebst du sie?“
       
       Mathilde schwieg. Sie rückte ein wenig ab von Paul Klurr-Panuffke und
       öffnete ihr Portemonnaie, um das Busgeld abzuzählen. Die Fahrt nach
       Knietershausen kostete eine Mark zwanzig.
       
       „Mir scheint, daß du nicht genug Geld dabei hast“, sagte Paul. „Soll ich
       dir einen Groschen borgen? Oder zwei?“
       
       Das Mädchen errötete.
       
       „Denke nur nicht, daß ich dich kaufen will“, fügte Paul leicht erbleichend
       hinzu und ließ seine Blicke über den Bahnhofsvorplatz schweifen, auf dem
       eine alte Taube mit zwei verkrüppelten Füßen umherspazierte.
       
       „Denk nach“, sagte Mathilde. Ihre Miene war ernst. „Wir haben es einmal in
       der Wohnung deiner Mutter getan. Und das war nicht recht.“
       
       Ein sanftes Lachen entfuhr Paul Klurr-Panuffkes Gebiß. „Wir haben es auch
       im Kölner Dom getan“, sagte er. „Oder hast du das vergessen? Auf dem
       Hochaltar!“
       
       Mild und seidig liefen die Tränen über Mathilde Brixendonckers Wangen. Auch
       in Wien gibt es Wein, dachte sie etwas zusammenhanglos und betupfte ihre
       Nase mit einem ungebügelten Taschentuch, in dessen eine Ecke das Monogramm
       ihrer Großmutter gestickt war.
       
       „Komm mit“, sagte Paul. „Wir können es noch einmal tun. Ich kenne ein
       Hotel. Es ist nicht weit.“
       
       Mathilde seufzte. Ihre Augen suchten das Straßenbild nach einem
       Anhaltspunkt ab, der ihr einen Aufschluß über ihre Gefühle hätte geben
       können, doch da war nur die Taube, die mit dem Schnabel in ein hartes Stück
       Brot pickte. Eine Taube sein, dachte Mathilde. Wenn ich eine Taube wäre,
       würde ich mir auch so ein Stück Brot suchen.
       
       Paul nahm Mathildes linke Hand und legte sie zwischen seine haarigen
       Oberschenkel. Er hatte sich absichtlich nur mit einer Unterhose bekleidet,
       bevor er zu dem Treffen am Bahnhof aufgebrochen war.
       
       „Ach, Paul“, sagte Mathilde. „Laß uns lieber noch etwas am Kanal
       entlanggehen …“
       
       Und so schritten sie dahin, Hand in Hand, ganz gemächlich, am grünen Ufer,
       bis Mathilde merkte, daß Pauls Griff etwas fester wurde.
       
       Ein Habicht löste sich schreiend aus einem Baumwipfel, ein Igel eilte über
       den Weg, ein Fasan schlug Alarm, von Osten zog eine Kaltfront herauf, und
       irgendwo bellte ein Hund.
       
       „Wir könnten es doch auch in diesem Gebüsch da tun“, sagte Paul und
       entledigte sich stolpernd seiner Unterhose, während Mathildes Gedanken ins
       Sauerland wanderten. Sie war dort aufgewachsen, als Scheidungskind einer
       rauchenden Kriegsheimkehrerin, die im Ural den Glauben an Gott verloren
       hatte.
       
       „Es ist nicht so, wie du denkst“, sagte Mathilde, als sie den zudringlich
       gewordenen Paul in die brackigen Kanalfluten gestoßen hatte und ihn mit
       einer zufällig am Wegrand aufgefundenen Forke unter Wasser drückte. „Ich
       brauche einfach nur ein bißchen mehr Abstand …“
       
       Sechs Wochen später wurde Paul Klurr-Panuffkes Leichnam bei Recklinghausen
       an Land gespült und von dem Angler Wilfried-Horst Pöff-Blörringer und
       seiner Verlobten Catrina-Ursula Sandmeyer-Schlöppel entdeckt.
       
       17 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gerhard Henschel
       
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